Vorsicht! Spielende Kinder

Im spanischen Original fragt der Titel: ¿Quién puede matar a un niño? – also: „Wer kann (schon) ein Kind töten?“. Diese Frage beantwortet der Film in den ersten sieben Minuten des Filmes sehr deutlich, wenn uns im Schnelldurchlauf anhand von Ausschnitten aus amerikanischen Wochenschauen das Jahrhundert, das noch so hoffnungsvoll mit Ellen Keys „Das Jahrhundert des Kindes“ (1902) eingeläutet wurde, als ein Jahrhundert des Kindes als Opfer von Krieg und Hunger – Nöten also, die von uns Erwachsenen verursacht sind – präsentiert. Vor diesem Hintergrund erhalten die Ereignisse des Films auch eine vage Erklärung – eine Erklärung die im deutschen Erst-Release des Filmes weggekürzt wurde. Der deutsche Titel damals, „Tödliche Befehle aus dem All“, reicht die Ursache des Konfliktes zwischen Erwachsenen und Kindern an ein Drittes, an eine außerirdische Macht, weiter.

Zur Handlung: Die britischen Touristen Tom (Lewis Fiander) und seine hochschwangere Frau Evelyn (Prunella Ransome) reisen ins katalanische Küstenstädtchen Benavis, um von dort zu der abgelegenen, jenseits des touristischen Trubels liegenden Inselidylle „Almanzora“ zu gelangen. Als man mit einem gemieteten Boot in den dortigen kleinen Fischerhafen einfährt, wird man von einer Schar Kinder empfangen, die ganz in ihr kindliches Spiel vertieft von Ihnen kaum Notiz nehmen.

Als das Paar dann durch die Straßen des Städtchens schlendern, wird ihnen alsbald unheimlich zu Mute. Denn mit Ausnahme der Kinder im Hafen scheint die Stadt menschenleer. Als das Paar dann beobachtet, wie ein junges Mädchen in einer Seitengasse kichernd einen alten Mann mit seiner eigenen Krücke totschlägt, wird ihnen allmählich bewusst, dass die Kinder des Dorfes eine grausame Revolution gegen die Älteren betreiben. Ein Überlebender berichtet Tom, dass die Kinder wie auf eine Verabredung hin um Punkt 12 Uhr nachts aufgestanden wären, um gemeinsam von Haus zu Haus zu ziehen und die Erwachsenen zu töten.

Dieser Feldzug gegen die Erwachsen vollzieht sich in Form eines kindlichen Spiels (so auch der Originaltitel der Kurzgeschichte von Juan José Plans, die parallel zum Drehbuch entstand: „El juego de los niños“), wie eine der vielleicht intensivsten Szenen des Filmes dokumentiert, wenn die Kinder die traditionell spanische Piñata in abgewandelter Form mit einem erwachsenen Opfer spielen (bei der Piñata schlägt man solange auf eine Pappmaché-Figur ein, bis die sich in ihr befindlichen Bonbons herauspurzeln).

Hier unterscheidet sich „Ein Kind zu töten…“ auch von der Vielzahl der Horrorfilme, die das terrible child zum Motiv haben, von „Village of the Damned“ (1960) über „Damian: Omen II“ (1978), „The Brood“ (1979), „Children of the Corn“ (1984) bis „Hostel“ (2005): er erklärt das spielerische Denken des Kindes zum Monströsen – und verlegt nicht ein erwachsenes (oder den Erwachsenen überlegendes, weil anderes) Denken in einen kindlichen Körper. Es wird kein Othering des Kindes betrieben (das man als kinderfeindlich und reaktionär begreifen könnte, wie dies Robin Wood in seinem einflussreichen Essay zum amerikanischen Horrorfilm tut), sondern es wird das Proprium in der kulturellen Konzeption des Kindes (seit Rousseau?) – seine konzeptuelle Zuordnung zur Sphäre des Spiels, seine „kindliche“ Unschuld – ins Böse extrapoliert. Nun ist das Konzept „Kindheit“ ein Produkt der Kultur, das einerseits als Schutzfunktion etc. dient, andererseits aber auch zur Unterdrückung, Entmündigung einer nicht geringen Zahl unserer Mitmenschen (der Kinder) beiträgt.

Welche Gedankengänge dieser Unterdrückungsmechanismus hervorbringen kann, wird in einer Szene deutlich, wenn Tom zu Evelyn – angesichts der Gräuel dieser Welt, die für Kinder keinen Schutzraum bietet – die Möglichkeit einer Abtreibung aufs Tapet bringt (was angesichts der Tatsache, dass Evelyn mindestens im sechsten Monat sein muss besonders monströs klingt). Hier wird also die Schutzbedürftigkeit des Kindes so weit getrieben, dass dafür der Tod des Kindes in Kauf genommen wird.

Regisseur Narciso Ibáñez Serrador enthält sich freilich keiner Festlegung in der Konzeption des „Kindes“. In einem erhellenden Interview (auf der DVD) erläutert er sein anti-Rousseau’sches Menschenbild, das eher an Hobbes erinnert: Menschen sind nicht von Natur aus gut oder böse, sondern müssen die Unterscheidung mit dem Erwachsensein erlernen. So sind also Kinder in diesem Sinne eher „böse“ und unmoralisch, während ein Erwachsener über eine mehr oder minder ausgeprägte Moral verfügt.

Dieses Bild ist natürlich ein Schlag ins Gesicht, für diejenigen, die im Kinde die reine „Unschuld“, „Güte“, „Reinheit“ etc. erblicken (man denke z.B. an die Fiorentino-Engelchen oder die mystisch-überhöhte Bedeutungsaufladung des Kindes in Alfonso Cuaróns „Children of Men“ (2006)). Dieses Bild wird gerade durch die siebenminütige, oben erwähnte Anfangssequenz wachgerufen, die ein die Geschichte der Menschheit durchziehendes perpetuiertes Unrecht der Erwachsenen gegen die Kinder behauptet. Diese Schwarz-Weiß-Polemik wird aber durch die Handlung des Filmes unterlaufen, wenn die Kinder nun den „Generationenvertrag“ einseitig aufkündigen (wobei nicht klar ist, wie die „Message“ des Regisseurs lautet, der im Nachhinein die Anfangssequenz am liebsten doch als Abspann gesehen hätte, um eine Motivation der mordenden Kinder nachzureichen (und also doch einseitig Partei für die Kinder ergreift).)

Der filmische Text von „Ein Kind zu töten…“ ist nicht nur hinsichtlich seiner Aussagen zur Kind-Konzeption voller hoch interessanter Brüche und Widersprüche, auf den prozessualen und brüchigen Charakter der Kind-Konzeption als Faktor der kulturellen Ordnung wird auch binnenfiktional angespielt, wenn der Tabubruch, (nämlich „ein Kind zu töten…“) von Tom (aus Notwehr – also aus Vernunftgründen) vollzogen wird und sich daraufhin zwischen ihm und Evelyn eine Kluft der Entfremdung auftut. Mit der Zerstörung des gemeinsamen Phantasmas ist das Miteinander verunmöglicht – folgerichtig führt der äußere Widerspruch dazu, dass Evelyn von ihrem „inneren Kind“ (inkarniert in Form der Apotheose des Kindlichen, des ungeborenen Kindes als Embryo) getötet wird.

Der zweifache Bruch mit den zivilisatorischen Konventionen, nämlich die Ausweitung des „Zauberkreises des Spiels“ (J. Huizinger) auf die Sphäre des „Ernstes“, den die Kinder betreiben und die Beantwortung dieser Grenzüberschreitung mit den äußersten Mitteln (Tötung der Kinder durch einen Erwachsenen), findet eine interessante Entsprechung auf der Ebene des Erzähldiskurses: Die erwähnte Anfangssequenz verwendet reale (= „ernste“) Aufnahmen vom Holocaust, Vietnam, Biafra etc. für einen Spielfilm – was sicherlich stets zu Irritationen beim Publikum führt, das eine striktere Trennung der Erzähl- von der Realitätsebene gewöhnt ist – ein Bruch mit den Sehgewohnheiten (den die Mondofilme sicherlich vorbereiteten und der in „Cannibal Holocaust“ (1980) noch radikaler vollzogen wurde).

Diese Kategorienverwischungen auf formaler wie inhaltlicher Ebene machen „Ein Kind zu töten…“ zu einem herausfordernden Filmerlebnis, an dessen „flirrender Oberfläche“ voller Bedeutungsunschärfen und –geistereffekte (sind sie nun vom Regisseur bewusst intendiert oder nicht) sich eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Konzeption des „Kindes“ anschließen ließe.

Ein Kind zu töten …
(¿Quién puede matar a un niño?, Spanien 1976)
Regie
: Narciso Ibáñez Serrador, Drehbuch: Juan José Plans, Narciso Ibáñez Serrador, Kamera: José Luis Alcaine, Musik: Waldo de los Ríos, Schnitt: Antonio Ramírez de Loaysa, Juan Serra, Darsteller: Lewis Fiander, Prunella Ransome, Antonio Iranzo, María Luisa Arias
Länge: ca. 106 Minuten

Zur DVD von Bildstörung

Bildstörung bringt den Film erstmalig ungeschnitten, ohne Indizierung und in – dem Alter des Materials entsprechend – guter Bild- und Tonqualität auf den deutschen Markt. Als Extras werden zwei Interviews geboten, die schon auf der US-amerikanischen Dark Skys-Veröffentlichung enthalten waren; ein 16-Seitiges Booklet informiert fachkundig die Hintergründe des Films.

Zudem liegt als besondere Überraschung eine Bonus-CD mit dem wunderbaren Score des Films von Waldo de los Rios, das spanische Pendant zu „James Last“, bei.

Sicherlich stellt diese Veröffentlichung weltweite Referenzklasse dar – und für die deutschen Sammler hat man auch eine wunderbare Lösung für die neuen übergroßen und hässlichen FSK-Logos gefunden: Der Pappschuber ist in einem Schutzumschlag, den man nach Kauf entsorgen kann.

Zur technischen Ausstattung der DVD:

Bildformat: 1:1,85 (16:9)
Tonformat: Deutsch DD 2.0 Mono, Englisch DD 2.0, Spanisch DD 2.0
Untertitel: Deutsch
FSK: ab 18
Extras: Interviews mit Regisseur Narciso Ibáñez Serrador und Kameramann José Luis Alcaine, Booklet mit Liner Notes, Bonus-CD mit dem Original Soundtrack von Waldo de los Ríos

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2 Antworten auf „Vorsicht! Spielende Kinder“

  1. Auch von mir ein herzliches Danke dafür, dass du mich auf diesen Film (und auch auf das Bildstörung-Label) aufmerksam gemacht hast.

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