Es darf ein relativ bekanntes und in unzähligen Kinderbüchern spannend umgesetztes Phänomen sein, dass Kinder sich nichts sehnlichster wünschen, als einen geheimen Freund, der immer für sie da und den „normalen“ Spielkameraden weit überlegen ist. Um diese Wunschvorstellung in der (fiktionalen) Realität zu verorten, werden Kuscheltiere mit Sprachfähigkeiten ausgestattet oder aber auch ganz neue Wesen erfunden, wie etwa der wohl bekannte Karlsson vom Dach.
Die Protagonistin von Daniel Youngs Film „Pinprick“, die gerade im Teenageralter ist, entscheidet sich allerdings für eine etwas andere Lösung: Sie hält in ihrem Zimmer einen erwachsenen Mann, der, nur mit Unterwäsche bekleidet, sich in ihrer Garderobe eingenistet hat und ihr scheinbar zur freien Verfügung steht. So kann sie mit ihm machen, was sie will. Und sie will: reden, flirten, einander kitzeln… Beinah ist der Zuschauer geneigt, ihn für ein Produkt der pubertären Einbildungskraft zu halten, die noch zwischen kindlicher Unbefangenheit und erotischen Phantasmen schwankt. Die Tatsache, dass Charlottes Mutter den geheimnisvollen „Mitbewohner“ in ihrem Haus offenbar nicht bemerkt, spricht ebenfalls fürs Karlsson-Syndrom.
Doch eines Tages beginnt der Mann, außerhalb des Hauses eine Begegnung mit der Mutter zu suchen und tritt in die häusliche Welt noch einmal – diesmal völlig legal und sichtbar für die beiden Frauen – als einfühlsamer Liebhaber der Mutter, die nach der Trennung von ihrem Ehemann Alex alleinerziehend ist. Das bringt das ohnehin ziemlich angespannte Verhältnis zwischen Mutter und Tochter zum Kochen, denn das Mädchen ist mit dem Umzug ihres heimlichen Freundes ins mütterliche Schlafzimmer überhaupt nicht einverstanden. Jetzt glaubt der Zuschauer vor sich ein Psychodrama zu haben, das in zugespitzter Form die Mutter-Tochter-Rivalität behandelt. Und wieder ist man auf der falschen Spur, denn – so haben es die Filmemacher gewollt – es soll schließlich doch ein Thriller werden. Schon bald wird der Versuch unternommen, all die psychologischen Ungereimtheiten, die sich im Laufe der Handlung angesammelt haben, durch das Blutvergießen zu vertuschen.
Das Finale ist zwar überraschend, enttäuscht aber trotzdem, da man auf eine raffiniertere Auflösung gewartet hat. Positiv ist neben der vielversprechendenden Ausgangsituation vor allem die Schauspielleistung von Laura Greenwood zu bewerten, die als Charlotte jene Frische und Authentizität vermittelt, die der Rest des Schauspielerensambles leider vermissen lässt. Bei alledem erweits sich „Pinprick“ als ein interessantes Beispiel für das „globale“ Filmschaffen, das eigentlich keinem bestimmten Produktionsland mehr zuzuordnen ist. Durch eine ungarische Produktionsfirma finanziert, von einem britischen Regiedebütanten gedreht, in einer nicht weiter definierten Kleinstadt angesiedelt… Obwohl alle Protagonisten, auch diejenigen, die von ungarischen Schauspielern verkörpert werden, im Film Englisch sprechen, hört man in einer Episode doch einen kurzen Monolog auf Ungarisch, der von dem geheimnisvollen Hausgast vorgetragen wird, kurz bevor er Charlottes Mutter eine märchenhafte Liebesnacht beschert. Eine Übersetzung gibt es nicht – weder für die sprachunkündigen Festivalzuschauer noch für die Heldin selbst, die vermutlich auch kein Ungarisch versteht. Es geht aber nicht primär um den Wortsinn, sondern um die Verführungskraft des Fremden und Exotischen, von der auch dieser – zugegeben: nicht ganz ungarischer – Film profitieren möchte.
Pinprick
(Pinprick, Ungarn 2008)
Regie: Daniel Young, Drehbuch: Daniel Young, Kamera: Szecsanov Martin
Darsteller: Rachael Blake, Laura Greenwood, Nagy Ervin, Rátóti Zoltán
Länge: 93 Minuten