Vom Gucken, vom Lächeln

Yorkshire, England 1750. Der Waisenjunge Tolly ist beauftragt, den Leichnam eines französischen Diebes, der gehenkt wurde, zu beerdigen. Doch der „Black Jack“ genannte Franzose lebt, und als er wieder zu Bewusstsein kommt, nimmt er Tolly mit sich, der als Übersetzer für seine verrückten Reden dient. Sie fliehen aufs Land, überfallen einen Frachtwagen, in dem Belle transportiert wird, eine junge Aristokratin, die aus einem Irrenhaus geflohen ist, in das sie ihre Familie eingewiesen hatte, um sich ihrer zu entledigen. Das junge Mädchen schließt sich den beiden Räubern an. Sie werden von einem Zirkus aufgenommen, der wie eine Freakshow wirkt. Drei Zwerge gehören ihm an, ein schüchterner Arzt, der ein Jugendserum verkauft, und ein kleiner Junge, der zu einem großen Dieb werden will. Tolly und Bell verlieben sich ineinander …

loach.jpgEin Kinderfilm? Oder vielmehr eine Parabel über eine Gemeinschaft der Ausgeschlossenen, eine Welt außerhalb der Ordnungen der englisch-aristokratischen Realität der Zeit (darin durchaus vergleichbar mit Tod Brownings Film “Freaks“, 1932)? “Black Jack“ stammt von Ken Loach, es ist der wohl unbekannteste seiner Filme, obwohl er 1979 den Preis der Internationalen Filmritik in Cannes gewann. Ein Historienfilm, der vor der Industrialisierung spielt. Und der sich dennoch einiger Stilmittel des Loachschen Kinos bedient – Laien spielen zahlreiche Rollen, Szenen werden improvisiert, die Sprache ist ein schwer verständlicher Yorkshire-Slang, überlappende Dialoge erinnern an das Kino Robert Altmans. Loach hat gerade im Ton nie Kompromisse gemacht – noch “Riff-Raff“ (1990) lief wegen seines harten Akzents in den USA in untertitelter Fassung.

Die meisten anderen Filme Loachs verraten ihren sozialrealistischen Gestus sofort. Der englische Film- und Fernsehregisseur Kenneth Loach (heute meist: Ken Loach) gilt als einer der Meister des englischen Realismus und als derjenige, der ihn am längsten und konsequentesten immer wieder umzusetzen versucht hat. Ob der Nähe der Stoffe, aber auch der Spielweisen zur Alltagskultur ist er vielfach mit dem Programm des italienischen Neorealismus verglichen worden. Dass er oft klar erkennbare didaktische Ziele mit seinen Filmen verfolgt hat, ein Aufklärungsprogramm im besten Sinne des Wortes, demzuliebe die Dichte der Illusion immer wieder zerstört wurde, hat viele Kritiker verstört.

Loach wurde am 17. Juni 1936 in Nuneaton, Warwickshire, in der Nähe von Coventry geboren. Sein Vater war Arbeiter in einer Maschinenfabrik. Loach ist sich seiner Herkunft aus der Arbeiterklasse äußerst bewußt geblieben, die Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen und Erfahrungsweisen des Proletariats bestimmt sein Lebenswerk bis heute. Loach begann in Oxford ein Studium der Rechtswissenschaft, fand aber schon als Student Zugang zum Theater. Er wurde Sekretär des studentischen Experimental Theatre Club. Nach der Militärzeit heuerte er bei einem Wander- und Repertoiretheater an, bevor er als Probenregisseur bei ABC Television unterkam. Schon bald wechselte er zur BBC und konnte die Regie einiger Folgen der Serie “Z-Cars“ („Task Force Police)“ übernehmen.

Mit seinem Freund und Schauspielerkollegen Tony Garnett (der bis 1981 viele Male als Produzent der Filme Loachs auftrat) entwickelte Loach dann das Konzept der berühmten Fernsehspielreihe “The Wednesday Play“, die in der Entwicklungsgeschichte des ‚Docudramas‘ einen ersten und selten wieder erreichten Höhepunkt darstellt. Loach und Garnett waren beide organisierte Sozialisten, und sie sahen das Fernsehen als ein ideales propagandistisches Medium – weil es ausgerechnet von denjenigen benutzt wurde, die es zu indoktrinieren galt. Die Idealvorstellung, daß sich die stilistischen Unterschiede zwischen Fiktion und Bericht bis zur Unkenntlichkeit verwischen sollten, wurde durch eine ganz bewußte Nutzung der dokumentarischen Darstellungsweisen des “cinéma vérité“ und des englischen “free cinema“ umgesetzt. Die Reihe begann 1965 mit “Up the Junction“ – einem Film über drei junge Frauen in London. Für “The End of Arthur’s Marriage“ und “The Coming Out Party“ (beide 1965) bekamen Loach und Garnett zwei Fernsehpreise. Als bedeutendster Beitrag der Reihe gilt “Cathy, Come Home“ (1966): Der Film erzählt die Geschichte einer jungen Arbeiter-Familie im Süden Londons, die dort in Harmonie und relativem Wohlstand lebt. Als der Mann aber einen Unfall hat, verliert er zunächst seine Arbeit, nach kurzer Zeit auch die Wohnung. Die Familie kann noch eine Weile in einem ausrangierten Bus zusammenleben, wird dann aber geteilt – bis am Ende die Frau in einem Frauenwohnheim, die Kinder in einem Kinderheim und der Mann auf der Straße leben müssen. Loach arbeitete in der Realisierung dieser düsteren Geschichte – die in monatelanger Arbeit vorrecherchiert worden war – mit improvisierten Dialogen, Handkamera, Originalschauplätzen und Laien in den Nebenrollen – mit dem Effekt, daß das Spiel den Eindruck großer Unmittelbarkeit und Authentizität machte. Der Film löste eine heftige öffentliche Diskussion über Armut in England aus, war sogar Anlaß für eine Parlamentsdebatte.

“Cathy, Come Home“ ist nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich der erste Film, der das Loach-Programm in ganzer Fülle enthält: Mittel des filmischen Ausdrucks, die eher dem Dokumentar- als dem Spielfilm entstammen; eine bewußt hergestellte Rohheit der szenischen Auflösung; eine entschiedene Sympathie für die Helden und ein propagandistisch-aufklärerisches Anliegen, das den ganzen Film trägt und sich aller – melodramatischer, satirischer, sentimentaler usw. – Mittel bedient, um den Zuschauer zur Stellungnahme zu bewegen; und schließlich ein entschieden moralisches Interesse für das englische Proletariat resp. Subproletariat. Gerade angesichts des zunehmenden Verfalls der großen sozialen Verbände benennt Loach immer wieder die Familie als sozialen Rahmen, der den einzelnen stabilisieren kann. “Raining Stones“ (1993) erzählt die Geschichte einer Familie in Manchester, in der der arbeitslose Vater sich auf einen Wucherkredit einläßt, um seiner Tochter ein Kleid für die Kommunion kaufen zu können. Als der Kredithai die Mutter bedroht, erschlägt der Vater ihn. Nicht allein, daß das Fest des Kindes die Familie in eine kaum mehr kontrollierbare finanzielle Misere stürzt, noch mehr überrascht, daß der Vater in der Kirche Rat sucht und Beistand findet: Der Priester solidarisiert sich mit dem Täter, wissend, daß das Kreditgewerbe seiner Gemeinde eine Dauerkrise beschert. Die Konflikt- und die Solidaritätspotentiale einer Gesellschaft stimmen nicht unbedingt mit den Parolen der Parteien überein.

ladybird.jpg“Ladybird, Ladybird“ (1993) nimmt Thema und Tonfall von “Cathy, Come Home“ wieder auf. Er erzählt von einer alleinerziehenden Mutter (dargestellt von Crissy Rock), der das Sorgerecht für ihre vier Kinder entzogen wird. Verbissen und verzweifelt kämpft die Frau, die mit einem südamerikanischen Exilanten zusammenlebt, mit dem sie weitere Kinder bekommt, darum, wieder mit ihren Kindern zusammenleben zu dürfen – vergeblich. Der Film, der auf einen tatsächlichen Fall zurückgeht, informiert erst am Ende darüber, daß das ungleiche Paar die drei letzten Kinder behalten durfte, von den fünf anderen aber weiterhin getrennt ist. Der Film zeigt vor allem, welche Zentralität Loach der Familie als einem Ort proletarischer Identität zubilligt: ein Ort der Geborgenheit, der Hoffnung und der Sorge. Das Spiel Crissy Rocks, das in Intensität und Differenziertheit tief beeindruckt und auf der 1994er Berlinale ausgezeichnet wurde, bezieht sich immer wieder auf körperliche Nähe als Zentrum einer Liebeserfahrung und einer Wärme, aus der auch alle utopische Energie zu entspringen scheint. Die Sehnsucht nach körperlichem Austausch ist zugleich aber der Anlaß zur Verunglimpfung der Heldin als verantwortungslos und unfähig, Sorge für ihre Kinder tragen zu können.

Die Familie als Ort proletarischer Identität kann sich so schnell als Falle erweisen. Von einer Flucht erzählt “Kes“ (1969) – ein Fünfzehnjähriger findet in einem abgerichteten Falken einen Freund und Partner, den er in seiner Familie und im Wohnviertel nicht finden konnte. Von einer tödlichen Falle erzählt der berühmte, an der Schizophrenie-Theorie des Double” -“Bind und den psychiatrischen Schriften Ronald D. Laings orientierte Film “Family Life“ (1971): Die 19jährige Janice Bailden bringt trotz der Hilfe ihres Freundes den Mut nicht auf, sich den Kontrollansprüchen der Eltern zu widersetzen und gerät so in ein Gefüge einander widersprechender Verhaltenserwartungen. Die Eltern sind aus dem Proletariat zu gutbürgerlichem Lebensstandard aufgestiegen – und es sind am Ende die Widersprüche ihres Lebens, denen sie ihre Tochter aussetzen, an denen jene letztlich seelisch stirbt. Das Kind, das sie sehnlich erwartet hat, läßt sie auf Wunsch ihrer Mutter abtreiben, wobei die Mutter ihr gleichzeitig aber Widersprüchliches signalisiert: Dem eher proletarischen Familienbild entsprechend – daß Kinder zu haben eine Gnade sei und daß sie Janice liebe und darum auch ihr Kind lieben werde; und gleichzeitig dem eher bürgerlichen Lebens- und Identitätsentwurf verpflichtet – daß das Kind viel zu früh komme und die Ausbildung Janice‘ darunter leide, daß sie Janice liebe und eben darum unbedingt darauf bestehen müsse, daß das Kind abgetrieben werde. Janice wird schizophren, gerät in die totalitäre Apparatur der Psychiatrie hinein und ist am Ende nur noch willen- und widerstandslose Patientin.

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Filme zu machen als eine Praxis politischer Arbeit und Auseinandersetzung – das war im England der Thatcher-Ära nicht gern gesehen. Da Loach immer öffentlich als parteilicher Filmemacher, ja als Trotzkist aufgetreten war, versuchte man ihm in den 1970ern und ganz besonders in der Thatcher-Ära durch Sendungsverbote und Zensurmassnahmen die Arbeit zu verunmöglichen. Tatsächlich entstanden in den 1980ern nur wenige Filme. Der letzte, der klar an das kämpferische und wütende Programm der 1960er und 1970er anknüpfte, war “Looks and Smiles“ (1981). Er ist zugleich eine der ersten filmischen Auseinandersetzungen mit den Folgen der neokonservativen Politik des Thatcher-Regimes. Der Film spielt in der ehemaligen Industriemetropole Sheffield und beschreibt Alltag und Perspektiven nordenglischer Jugendlicher zwischen Arbeitslosigkeit, Deindustrialisierung und Nordirlandkrieg. Die Schauspieler sind Laien, die meist sich selbst darstellen. Eine der Konsequenzen, die Loach aus den schweren Behinderungen seiner Arbeit zog, denen er in den 1980ern ausgesetzt war, war die Beteiligung an der Produktionskooperative „Parallax Pictures“, die seit 1990 (“Riff-Raff“ war Loachs erster Film für die neue Firma) die Produktion unabhängiger Filme ermöglichte und aus der 2004 die „Sixteen Films“ (benannt nach dem Titel “Sweet Sixteen“) hervorging, die seitdem die Loach-Filme produziert.

my_name_is_joe.jpgWidersprüche aller Art spielen in Loachs Werk immer wieder eine große Rolle. Nach “Riff-Raff“ (1991) und “Raining Stones“ (1993) kehrte Loach 1998 mit der Tragikomödie “My Name Is Joe“ zu seiner gewohnten Thematik zurück: dem Schicksal der kleinen Leute des Arbeitermilieus. Der ehemalige Alkoholiker Joe (Peter Mullan) glaubt zwar, sein Leben inzwischen unter Kontrolle zu haben, gerät aber durch einen hoch verschuldeten Freund in Konflikt mit der Drogenmafia. Joe ist dem Druck nicht gewachsen, rechnet mit den Gangstern schließlich ab und greift wieder zur Flasche. Sein junger Freund begeht Selbstmord. Was wie eine sozialrealistische Komödie beginnt, entwickelt sich zunehmend – auch visuell – zum düster-tragischen Thriller. Manches nimmt hier bereits unmittelbaren Bezug zur Gegenwart. Viel schärfer ist “The Navigators“ (2001) als eine sarkastische Kritik an der Liberalisierung der englischen Wirtschaft gefaßt. Der Film erzählt die Geschichte eines Trupps von vier Eisenbahnarbeitern in South Yorkshire, die die Privatisierung der britischen Eisenbahn miterleben und miterleiden. Gedreht an originalen Schauplätzen, mit authentischen (Laien-)Darstellern und einem Drehbuch, in dem selbst die absurdesten Ereignisse durch wahre Begebenheiten belegt sind, reiht Loach zunächst grotesk Anmutendes auf, wenn etwa die Geschäftsleitung ausgibt, die Arbeiter sollten darauf achten, dass die Todesfälle eine „erträgliche Anzahl“ nicht überschreiten dürften. Doch was als zynische Slapstick-Komödie beginnt, zeigt sich nach und nach als unhintergehbare Realität. Es kommt zu einem Unfall. Der eine will sofort den Unfallwagen rufen; die anderen befürchten aber Entlassung und Strafanzeigen, weil sie die Sicherheitsvorschriften nicht beachtet haben, und transportieren den Schwerverletzten auf die Straße, geben vor, ein Auto habe ihn überfahren. Der Verletzte stirbt nach kurzer Zeit. Dies ist das Ende der Freundschaft, die den kleinen Trupp immer zusammengehalten und der die einzelnen wie ein familiäres Band geschützt hatte.

Von zunehmender Bedeutung in Loachs Werk sind die Zerstörungen und Vernarbungen geworden, die mit Exil und Migration einhergehen. Spielt schon in “Ladybird, Ladybird“ (1993) ein Südamerikaner den ohnmächtigen Partner der Titelheldin, wendet sich Loach in “Carla‘s Song“ (1996) der Geschichte einer jungen Frau zu, die aus Nicaragua nach London floh, nachdem ihre Sandinista-Gruppe in einen Hinterhalt geraten war. Sie verliebt sich in einen jungen Engländer. Nach langem Zögern wagt sie – nach einem Selbstmordversuch – die Reise in ihr Heimatland, um ihren Traumata begegnen zu können – und findet ihren zum Krüppel gefolterten Geliebten. Sie wird bleiben, der junge Engländer, der sie begleitet hatte, kehrt zurück nach England. “Bread and Roses“ (2000), der einzige in den USA realisierte Film Loachs, variiert das Thema der Migration am Beispiel eines Streiks der Putzkräfte in Los Angeles. Es sind fast ausnahmslos Mexikaner und Mittelamerikaner, oft illegal eingewandert, die zu Hungerlöhnen niedere Arbeiten in den Büros der Reichen verrichten. Die Heldin des Films findet zunächst Arbeit, wird entlassen, überfällt eine Tankstelle, finanziert von der Beute den Studienplatz eines Freundes – und wird am Ende bei einer Protestaktion verhaftet, die Fingerabdrücke identifizieren sie als Täterin, sie wird abgeschoben. Der Streik aber ist erfolgreich.

just_a_kiss.jpgLoach ist Skeptiker. Vielleicht erstaunt aus diesem Grunde die Leichtigkeit, mit der er manches inszeniert. Dennoch sind es keine „Feel-Good-Geschichten“, die er vorgelegt hat. “Bread and Roses“ spielt sein Thema als Tragikomödie durch. “Just a Kiss“ (2004) schließlich ist eine Komödie, die von der Liebe eines pakistanischen DJs zu einer irischen Musiklehrerin im englischen Glasgow erzählt. Sein Feld ist eine hybrid gewordene Gesellschaft, in der nichts mehr so ist, wie es vielleicht einmal gewesen ist; aber er handelt auch von der Utopie, dass alle ethnischen und religiösen Konflikte und Differenzen sich unter der Sympathie der Beteiligten auflösen lassen.

Einen anderen, eher aufklärerischen thematischen Pol im Denken und Arbeiten Loachs markiert “Land and Freedom“ (1994) wohl am deutlichsten – eine brechtianisch anmutende, manchmal theatralisch spröde Parabel von der Geschichte des Sozialismus. Im spanischen Bürgerkrieg muß ein englischer Kommunist, der sich den internationalen Brigaden angeschlossen hat, miterleben, wie sich die Stalinisten gegen alle anderen linken Fraktionen (Trotzkisten, Anarchisten, Sozialisten usw.) absetzen und am Ende gar nichtkonforme Genossen hinrichten, unter ihnen die Frau, die er liebt. Der Film setzt die These, daß der stalinistische Hegemonialanspruch schon in den dreißiger Jahren die Idee des Sozialismus und der Internationale der Arbeiterschaft verraten habe und „die kommunistische Partei aufhörte, eine revolutionäre Partei zu sein“ (Loach). “Land and Freedom“ ist als Rückblende erzählt – die Enkelin entziffert das Leben des Großvaters aus seinen Aufzeichnungen in einem vergessenen Koffer. Die Geschichte der englischen Arbeiterbewegung zwischen 1916 bis zum Generalstreik 1926 war das Sujet des vierteiligen Fernsehfilms “Days of Hope“ (1975) – und auch hier ist der Bezug eigentlich aktuell: Es ging darum, die Anti-Arbeiter-Politik Churchills und Baldwins als repressiv zu entlarven und den „Verrat“ (Loach) des Trades Union Congresses der Labour Party und der Communist Party scharf zu verurteilen.

Sicher ist es kein Zufall, daß “Land and Freedom“ als Rückblende erzählt ist, scheint doch diese Rahmung den Appell zu implizieren, über die Geschichte des Sozialismus noch einmal neu nachzudenken – angesichts der Verhärtungen des Thatcherismus, Anpassungsbewegungen in der Labour Party (der Name Tony Blair markiert nur eine Tendenz, die schon seit den zwanziger Jahren dominant geworden ist) und einer zunehmenden Verelendung breiter Bevölkerungsteile. Gegenwart ist ohne Geschichte nicht denkbar. Die Episode, die Loach zu dem Omnibusfilm “11’09“01 – September 11“ (2002) beisteuerte, erzählt noch einmal von dem kurzen Aufbruch der chilenischen Demokratie, deren Leitfigur Salvador Allende zufällig am 11. September ermordet wurde – und der Film plädiert dafür, die Trauer um die Toten des New Yorker Terroranschlags zu verbinden mit den Toten der Befreiungsbewegungen der Dritten Welt (und erinnert zudem an den imperialistischen Gestus der US-amerikanischen Politik im Vorfeld des 11. September). Auch “The Wind That Shakes the Barley“ (2006) knüpft thematisch an diese These Loachs an: Er handelt von zwei irischen Brüdern, die ungleicher kaum sein könnten – Teddy ist ein rebellischer, pragmatisch denkender junger Mann voller Tatendrang, der von den Briten als Anführer der irischen Befreiungsbewegung gesucht wird; Damien dagegen will Arzt werden, er hält sich aus dem Konflikt zwischen Iren und Engländern zunächst heraus, entscheidet sich erst kurz vor seiner Abreise aus Irland anders und schliesst sich der IRA an. Er wird angesichts der Brutalität der englischen Soldaten zunehmend radikaler, verantwortet schließlich die Exekution eines irischen Mitkämpfers, der die lokale IRA-Gruppe an die Engländer verraten hatte. Die Unterzeichnung des Unabhängigkeits-Vertrages von 1922 treibt nicht nur einen Keil in die Freiheitsbewegung, sondern auch zwischen die beiden Brüder. Teddy sieht in der Unterzeichnung einen wichtigen Schritt in Richtung Freiheit, Damien betrachtet diese Waffenruhe als Niederlage.

Nicht-kanonische Geschichtsschreibung im Kino kann bis heute polarisieren – die politischen Kommentare zu Loachs Film aus England waren einhellig ablehnend, obwohl der Film die Goldene Palme in Cannes errang.

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Filmographie

  • Cathy, Come Home (Komm nach Hause, Cathy), 1966, BBC
  • Poor Cow (Poor Cow – geküßt und geschlagen), 1967
  • Kes (Kes), 1969
  • After a Lifetime (Nachtrag), 1971, BBC
  • Family Life (Familienleben), 1971
  • Days of Hope (Tage der Hoffnung), 1975, BBC, Vierteiler
  • The Price of Coal (Der Preis der Kohle), 1977, BBC
  • Black Jack (Black Jack, der Galgenvogel), Großbritannien/Frankreich 1979
  • The Gamekeeper, 1980, BBC
  • Looks and Smiles (Looks and Smiles – Erwartungen und Enttäuschungen), 1980
  • Fatherland (Vaterland), BRD/Großbritannien/Frankreich 1985
  • Singing the Blues in Red, 1986
  • Hidden Agenda (Geheimprotokoll), 1990, Channel Four
  • Riff-Raff (Riff-Raff), 1991
  • Ladybird, Ladybird (Ladybird, Ladybird), 1993
  • Raining Stones (Raining Stones), 1993
  • Land and Freedom (Land and Freedom), 1994
  • Carla’s Song (Carla‘s Song), 1996
  • The Flickering Flame, 1997 (Dokumentarfilm)
  • My Name Is Joe (My Name is Jo), 1998
  • Bread and Roses (Bread and Roses), 2000
  • The Navigators (The Navigators), 2001
  • Sweet Sixteen (Sweet Sixteen), 2002
  • Just a Kiss (Just a Kiss), 2004
  • The Wind That Shakes the Barley (The Wind That Shakes the Barley), 2006

Literatur

Loach über Loach / Interviews:

  • Levin, G. Roy: Documentary Explorations. 15 Interviews with film-makers. Garden City, NY: Doubleday 1971, S. 95-110.
  • [Loach, Ken:] Loach on Loach. Ed. by Graham Fuller. London: Faber 1998, XI, 147 S.
  • Petley, Julian: An Interview with Ken Loach. In: Framework, 18, 1982, S. 9-12.
  • Quart, Leonard: A Fidelity to the Real. An Interview with Ken Loach and Tony Garnett. In: Cineaste 10,4, 1980, S. 26-29.
  • Ryan, Susan / Porton, Richard: The Politics of Everyday Life. An Interview with Ken Loach. In: Cinéaste 24,1, Dec. 1998, S. 22-27.

Bücher / Artikel:

  • Brown, Geoff : Paradise Found and Lost: The Course of British Realism. In: Robert Murphy (ed.): The British Cinema Book. London: British Film Institute 1997, S. 187-197.
  • Christie, Ian: Mirror images. French reflections of British cinema. In: Lettre de la Maison Française d’Oxford, 11, Oct. 1999, S. 83-92.
  • Hacker, Jonathan / Price, David: Take 10: Contemporary British Film Directors. Oxford/New York: Oxford University Press 1992, S. 272-309.
  • Hayward, Anthony: Which side are you on? Ken Loach and his films. London: Bloomsbury 2005, VIII, 308 S.
  • Herpe, Noël […]: Dossier – Ken Loach. In: Positif, 416, Oct. 1995, S. 70-79.
  • Leigh, Jacob: The cinema of Ken Loach. Art in the service of the people. London: Wallflower 2002, 211 S. (Directos‘ Cuts.).
  • MacMurraugh-Kavanagh, M.K.: ‚Drama‘ into ’news‘. Strategies of intervention in The Wednesday Play series. In: Screen 38,3, Oct. 1997, S. 247-259.
  • McKnight, George: Agent of challenge and defiance. The films of Ken Loach. Trowbridge: Flicks Books 1997, VI, 234 S. (Cinema Voices.). – Zugl. Westport, Conn: Greenwood Press 1997.
  • Petley, Julian: Ken Loach. La mirada radical. Valladolid: Semana de Cine 1992, 191 S.
  • Rizza, Gabriele (a cura di): Ken Loach. Un cineasta di classe. Firenze: Ed. Aida 2004, 158 S. (Personaggi e Interpreti. 10.).
  • Robins, Mike: Ken Loach, b. Kenneth Loach. In: Senses of Cinema, URL: http://www.sensesofcinema.com/contents/directors/03/loach.html.
  • Rousselet, Francis: Ken Loach, un rebelle. Paris: Ed. du Cerf […] 2002, 204 S. (7e art. 117.).
  • Sandford, Jeremy: Cathy Come Home. In: Alan Rosenthal (ed.): The New Documentary in Action: A Casebook in Film Making. Berkeley, CA: University of California Press 1971, S. 164-175.
  • Slaughter, Jane: Revolution is a Pregnant Cow. In: The Progressive, July 1996, S. 30-33.
  • Smith, Gavin: Voice in the Dark. In: Film Comment, March-April 1988, S. 38-46.
  • Smith, Gavin: Sympathetic Images. In: Film Comment, March-April 1994, S. 58-67.
  • Thomas, Erika: Le cinéma de Ken Loach. Misères de l’identité professionnelle. Paris: Harmattan 2005, 100 S. (De visu.).
  • Thomas, Erika: Ken Loach. Un regard cinématographique sur l’aliénation familiale. Paris: L’Harmattan 2006, 102 S. (De visu.).
  • Tulloch, John: Television Drama. Agency, Audience, and Myth. London 1990, S. 152-165.
  • Walker, Alexander: Hollywood UK. The British Film Industry in the Sixties. New York: Stein and Day 1974, S. 373-383.
  • Wulff, Hans J.: Land and Freedom (1996). In: Filmgenres: Kriegsfilm. Hrsg. v. Thomas Klein, Marcus Stiglegger u. Bodo Traber. Stuttgart: Reclam 2006, S. 313-318.

Hans J. Wulff

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