„Was bedeutet ‚Rosebud'“? Diese anscheinend harmlose Frage ist eine Parole des postmodernen Kinos und „Rosebud“, das geheimnisvolle Wallungswort, der Inbegriff des neuen Erzählens. Jenes letzte Wort des sterbenden Citizen Kane, mit dem Orson Welles epochaler Spielfilm beginnt, verweist auf das Rätsel der Erzählung selbst. Es ist eine Art narrativer Trojaner, den es braucht, um die Geschichte in Gang zu setzen und gleichsam ein früher Abgesang auf den Typus der klassischen, väterlichen Erzählinstanz. Der Erzähler ist tot, es lebe die Erzählung.
In ihrer Dissertation „Aspekte postmodernen Erzählens im amerikanischen Film der Gegenwart“ hat sich die Potsdamer Filmwissenschaftlerin Anthrin Steinke der neuen Erzählformen im Film nun in einer längst überfälligen Auseinandersetzung mit dem Thema angenommen. Denn mindestens eben so lange wie der Begriff der Postmoderne schon den zeitgenössischen Diskurs beherrscht – also seit dem Aufblühen des französischen Poststrukturalismus Ende der 1970er-Jahre, ist auch eine nachhaltige Umwälzung der künstlerischen Ausdrucksformen im Spielfilm, genauer: im Mainstream-Kino festzustellen.
Genannt seien nur Schlagworte wie Selbstreferentialität, unzuverlässiges Erzählen oder auch die nicht-linearen Erzählstrukturen. Sicher, all dies ist nicht erst seit den Experimenten der Nouvelle Vague oder New Hollywoods populär. Schließlich zucken immer dort, wo künstlerische Ausdrucksformen zur Verfestigung neigen, sogleich auch die Impulse ihrer Zersetzung auf. Doch mit dem allgemeinen Vordringen der postmodernen Ästhetik, ihrer Fragmentarisierung einheitlicher Erzählformen, dem Zertrümmern und Wiederzusammensetzen der grands récits – der großen Geschichten – im Modus des Kollagierens, lässt sich von einem neuen Paradigma auch für den filmischen Bereich sprechen.
Es ist also nur konsequent, wenn Steinke ihre Untersuchung anhand eines Filmkorpus durchführt, der sich auf eben den von der Postmoderne-Diskussion dominierten Zeitraum erstreckt. Beginnend mit David Cronenbergs hysterisch-bissiger Medienkritik „Videodrome“ von 1982, bis hin zu David Lynchs „Lost Highway“ und „Fight Club“ von David Fincher, beides Werke der ausgehenden 90er-Jahre, wird der Versuch unternommen, erst einmal das Konzept des postmodernen Films zu bestimmen, um es dann mit dem Modell der Narratologie, wie es der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette entwarf, kurzzuschließen.
Zwar existieren bis jetzt Unmengen von Abhandlungen zum Begriff der Postmoderne und ebenso zahlreiche Beiträge zur Filmnarratologie, ohne dass bisher jedoch beide Ansätze in extenso zusammengeführt worden wären, geschweige denn eine tragfähige Definition des postmodernen Films etabliert wäre. Um diesen Mangel zu beheben, bedient die Autorin sich aber bewusst nicht eines postmodernen Ansatzes, sondern greift zurück auf die strukturalistische Theorie, die prinzipiell von der Einheit ihres Untersuchungsgegenstands ausgeht. Hierin steckt die Überlegung, dass gerade die disparate, vielgestaltige Erscheinungsform postmoderner Erzählungen durch Abgleichung mit dem Ideal einer kohärenten Erzählung klassischen Zuschnitts ihre Unterschiedlichkeiten preisgibt. Auf der Grundlage dieser Differenzbestimmung entwickelt Steinke sodann die notwendige Typologie, die zu einer fundierten Bestimmung der charakteristischen Merkmale postmoderner Filmerzählungen unabdingbar ist. Eines dieser Merkmale ist zunächst der Verlust eines archimedischen Punkts, der gleichbedeutend mit dem Verlust der zuverlässigen Erzählerinstanz ist. Daraus ergeben sich dann in einem nächsten Schritt Phänomene, die der zeitlichen Ordnung zuzuordnen sind wie zirkuläre, episodische oder simultane Erzählstrukturen. Andere wie die Plurivokalität, also die Vielstimmigkeit verschiedener narrativer Instanzen und Erzählfiguren, sind eher der Kategorie der Perspektive und der Stimme, wie sie aus der literaturwissenschaftlichen Narratologie bekannt sind, zuzurechnen.
In der Folge lässt sich anhand der angeführten Filmbeispiele eine gewisse Häufigkeit bestimmter Merkmale detailiert nachweisen und den entsprechenden narrativen Funktionen zuordnen. Eine qualitative Analyse der verschiedenen Erzählformen im Rahmen der Binnenkonstruktion ergibt sich allerdings nur unter weiterer Zuhilfenahme von soziologischen, philosophischen und insgesamt kulturkritischen Interpretationen.
Dennoch liefern Steinkes umfangreiche Fallstudien durchaus erkenntnisreiche Einblicke in die erzähltheoretischen Gesetzmäßigkeiten postmoderner Filme. Eine davon ist die fast schon symptomatisch auftretende Distanzierung des Zuschauers von der filmischen Illusion, eben durch die aufbrechenden, sich selbst herzeigenden Darstellungsmittel. Mit anderen Worten, es findet im „Kollaps der Hierarchien“ eine Emanzipation von der Erzählautorität zugunsten einer je individuellen Auslegung des Geschehens statt – und des Gesehenen. Denn gleichzeitig geht mit der teils extremen Komplexität der postmodernen Erzählweisen auch der Verlust und die Umbildung der gewohnten Wahrnehmungsstrukturen einher. Steinke sieht darin eine ästhetische Reaktion auf die zunehmende Zersplitterung der Lebenswirklichkeit. Eine Einschätzung, die die von ihr untersuchten Filme auch thematisch durchaus widerspiegeln.
Angesichts der zu Grunde liegenden Fragestellung ist die filmografische Auswahl selbst jedoch nicht ganz unproblematisch. Zunächst zählt David Cronenberg nur mit viel Wohlwollen als Mainstreamautor, darüber hinaus ist er, im Gegensatz zu den Amerikanern David Lynch und David Fincher, Kanadier – ein weniger unerheblicher Umstand als es auf den ersten Blick scheint. Denn gerade das sehr eigenständige kanadische Kino, man denke nur an Atom Egoyan oder Denys Arcand, zeigt in seiner thematischen Ausprägung wesentlich stärkere Bezüge zur soziologischen Wirklichkeit als dies etwa im amerikanischen Mainstreamkino der Fall ist. Es ist zudem seiner ästhetischen Herkunft nach eher vom europäischen Kino als von Hollywood beeinflusst. Doch leider bleiben Aspekte der Stilgenese oder aber die Einbindung in den Werkzusammenhang der jeweiligen Autoren weitgehend ausgeklammert.
Dass das Buch dennoch zahlreiche grundlegende Einsichten zu bieten hat, liegt insbesondere an der Übertragung und teilweisen Umformung der literarischen Erzählanalyse zum Nutzen der filmischen. Steinke hat erkannt, dass Genettes strukturalistischer Ansatz ein sinnvolles Instrument zur Eingrenzung und Bestimmung postmoderner Narrationsverfahren im Medium Film sein kann. Ein Wermutstropfen ist dabei allerdings die zum Teil unscharf gebliebene Terminologie und die klare klassifikatorische Abgrenzung der typologischen Merkmale, die ja die strukturalistische Systematik so brauchbar macht. Warum etwa gibt Steinke das „Bewusstwerden der eigenen Fiktionalität“ als narratologisches Merkmal der postmodernen Filmerzählung aus und stellt dieses in eine Reihe mit „rückwirkend dekonstruktiven Erzählungen“? In Anbetracht dieser teils unspezifischen Abgrenzungen verschwimmt dann auch das Verhältnis erzählzeitlicher und dramaturgische Charakteristika allzusehr.
Klar ist hingegen, dass ein vorwiegend textbezogener Analyseansatz wie dieser, der im Ergebnis immer wieder auf die besondere Stellung des Zuschauers und der Figurengestaltung verweist, letztlich nur als dringend benötigte Grundlage verstanden werden kann, auf der weitere, vor allem rezeptionsästhetische Arbeiten aufbauen sollten. Nur so kann der Wandel der Erzählstrukturen im Spannungsfeld von modernen und postmodernen Verfahren ausreichend beleuchtet und die Identität der postmodernen Erzählung vollständig erfasst werden.
Anthrin Steinke:
Aspekte postmodernen Erzählens im amerikanischen Film der Gegenwart. mit CD.
Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag 2007
301 Seiten (Paperback), 32,00 EUR.
Dieses Buch bei Amazon kaufen.