Straße der Finsternis

Ein junges Paar küsst sich sanft in einem Weichzeichner-getränkten Szenario. Die Untertitel stimmen auf eine Liebesromanze ein: „This boy and this girl were never properley introduced to the world we live in. To tell their story …“ Zu schön, um wahr zu sein, ist der Beginn von Nicholas Rays bedrückendem Kinodebüt. Doch das unbeschwerte Zusammensein für Bowie (Farley Granger) und Keechie (Cathy O´Donnell) – verlorene Kinder in einer bedrohlich-fremden Welt – bleibt, was der Weichzeichner  im klassischen Hollywoodfilm meist kennzeichnet: Traum, Fantasie, Wunschvorstellung. „Im Schatten der Nacht“ lebt das jugendliche Verbrecherpaar in Nicholas Rays Film. Auf die zuckersüße Traumvorstellungen folgt die bittere Realität einer zum Tod geweihten Romanze.Ein Schnitt und in einer aus dem Helikopter gefilmten Szene – der ersten je in einem Spielfilm verwendeten – rast ein Wagen durchs Bild. Darin flieht der wegen Mordes verurteilte Bowie, gerade aus dem Gefängnis ausgebrochen.

„Two poor little children,
Whose names I don’t know,
Were stolen away
On a fine summers day,
And left in a wood“
(traditional)

„He´s jailbait.“, hört Keechie warnend von Mattie (Helen Craig). Die verbitterte Gangsterbraut weiß, wovon sie spricht, denn auch sie hat „Jailbait“ geheiratet, als sie so jung war wie Keechie: Seit Jahren sitzt ihr Ehemann schon im Gefängnis. Mattie altert allein, mit dem quälenden Bewusstsein, dass die gemeinsame Liebe mit jedem Tag der Trennung schwindet. Fast ein Jahrzehnt in Haft war auch Bowie, obwohl er kaum älter als Keechie ist. Mit 16 wurde er wegen Mordes verurteilt. Mit seinen Mithäftlingen T-Dub (Jay Flippen) und Chickamaw (Howard da Silva) ist er ausgebrochen. Beim Versuch, sich von dem Fehlurteil reinzuwaschen, macht Bowie sich die Hände immer schmutziger, stolpert haltlos durch eine ungerecht und grausame Welt, die begreifen zu lernen er nie Gelegenheit hatte. Seelisch verwaist wie der elternlos aufgewachsene Bowie ist auch Keechie: Chikamawas Nichte lebt bei ihrem verrohten Vater, der sich in fast inzestuöser Abhängigkeit an sie klammert, eingesperrt im Gefängnis aus Armut, Plackerei und sozialer Isolation.

Jeder Hoffnungsschimmer entpuppt sich als Irrlicht. „I won’t sell you hope when there ain’t any“, sagt der Betreiber einer heruntergekommenen Hochzeitskapelle, in der sich Bowie und Keechie trauen lassen. Die grelle Schäbigkeit der 24-Stunden-Kirche symbolisiert die fadenscheinige Moral und Korrumpierbarkeit der Erwachsenengesellschaft. Repräsentiert wird sie durch ein korruptes Rechtssystem, zynische Berufsverbrecher und schäbige Kleinganoven. „They live by Night“ – bitter, verhärmt und dennoch mit einem verzweifelten Rest Hoffnung, so vergeblich wie die von Bowie und Keechie. Vorbildfiguren existieren in Rays Filmwelt nicht. Alle Charaktere wissen um ihre Verkommenheit: „In a way I’m a thief just the same as you are,“, sagt der Betreiber der Hochzeitskapelle. Die Erwachsenen sind Spiegelbilder des jungen Paares. Das, was das Leben aus ihnen machen würde: Jailbait.

Im Schatten der Nacht
(They live by Night, USA 1948)
Regie: Nicholas Ray; Drehbuch: Nicholas Ray, Charles Schnee; Musik: Leigh Harline, Woodie Guthrie; Kamera: George E. Diskant; Schnitt: Sherman Todd
Darsteller: Farley Granger, Cathy O’Donnell, Howard Da Silva, Jay C. Flippen, Helen Craig
Laufzeit: 92 Minuten
Freigabe: FSK 12
Verleih: Arthaus

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