Straße der Finsternis

Ein junges Paar küsst sich sanft in einem Weichzeichner-getränkten Szenario. Die Untertitel stimmen auf eine Liebesromanze ein: „This boy and this girl were never properley introduced to the world we live in. To tell their story …“ Zu schön, um wahr zu sein, ist der Beginn von Nicholas Rays bedrückendem Kinodebüt. Doch das unbeschwerte Zusammensein für Bowie (Farley Granger) und Keechie (Cathy O´Donnell) – verlorene Kinder in einer bedrohlich-fremden Welt – bleibt, was der Weichzeichner  im klassischen Hollywoodfilm meist kennzeichnet: Traum, Fantasie, Wunschvorstellung. „Im Schatten der Nacht“ lebt das jugendliche Verbrecherpaar in Nicholas Rays Film. Auf die zuckersüße Traumvorstellungen folgt die bittere Realität einer zum Tod geweihten Romanze. „Straße der Finsternis“ weiterlesen

Die Nacht zum Tag gemacht

Podcast mit Jörg Buttgereit und Stefan Höltgen über:

  • Red Riding: 1974 (GB 2009, Julian Jarrold)
  • The Collector (USA 2009, Marcus Dunstan)
  • [REC] 2 (Spanien 2010, Jaume Balagueró & Paco Plaza)
  • Splice (USA/Kanada 2009, Vincenzo Natali)
  • La Horde (F 2009, Yannick Dahan & Benjamin Rocher)

„Wir sind hier alle Zeitbomben.“

„Deine Frau ist potthässlich, deine Kinder verachten dich, dein Haus ist eine Müllhalde und du hasst dein Leben!“ – „So ein Leben führen die meisten Menschen …“

Dieser Dialog zwischen dem abgewrackten Polizisten Schneider (Daniel Auteuil) und seinem etwas weniger verkommenen Partner bringt den finsteren Tonfall von Olivier Marchals „MR73“ auf einen nachdrücklichen Punkt. Bereits die ersten Minuten stellen klar, dass Schneider ganz unten angekommen ist. Stockbetrunken und mit vorgehaltener Dienstwaffe nimmt er da einen ganzen Linienbus zur Geisel und zwingt den Fahrer, ihn nach Haus zu fahren. Der Vorfall wird vertuscht, als Schneider mit vollgepisster Hose in der Ausnüchterungszelle zu sich kommt, doch zur Strafe wird dieser offensichtliche Antiheld versetzt. An den Beschwerdetisch, in die Nachtschicht. Wie könnte man einen Polizisten noch stärker demütigen?
„„Wir sind hier alle Zeitbomben.““ weiterlesen

Kein Superman mit Rückenschmerzen

Werner Herzog, der gerade die Festival-Jury der Berlinale leitet, meldet sich selbst mit einem neuen Spielfilm in der Filmszene zurück. Von Abel Ferraras „Bad Lieutenant“ hat er ein Remake angefertigt, ohne – wie er er behauptet – das Original gesehen zu haben. Mit Jörg Buttgereit und Sirkka Möller haben wir den Film in der Pressevorführung gesehen und danach ein Podcast aufgenommen. Moderiert hat Stefan Höltgen.

„Kein Superman mit Rückenschmerzen“ weiterlesen

Fesselspiele der feinen englischen Art

Die britische Serie „The Avengers“ (dt. „Mit Schirm, Charme und Melone“) aus den 1960er-Jahren hat auch in Deutschland sehr viele Fans, die sich dieses Jahr mächtig freuen dürfen: Nicht nur Arte sendet den Mix aus Krimi-, Agentenfilm-, teils absurden Science Fiction- und Komödienelementen rauf und runter, seit dem Frühjahr 2009 legt Kinowelt in rasantem Tempo die erhalten gebliebenen Staffeln der Serie nach und nach als DVD-Boxen vor.

„Fesselspiele der feinen englischen Art“ weiterlesen

Profondo giallo

Dario Argento ist im Grunde immer ein Märchenerzähler gewesen, und seine Filme dort am stärksten, wo sie am reinsten sind. Wo sie die Mimikry des Narrativen fallen lassen und sich ganz in das Zentrum der irrationalen Furcht, ins Delirium, in die Urangst hineinstürzen. Die Drei Bösen Mütter. Das Mädchen, das mit den Insekten spricht. Der dunkle Wald. Das fremde Land. Das Animalisch-Mörderische, die dunkle Sexualität, das Fallen, Gleiten, Flüchten in den Irrsinn. Seine großen Filme, etwa von „Profondo Rosso“ bis „Opera“, entziehen sich der Plotkritik, weil es ihnen offenkundig um etwas geht, das nicht erzählbar ist, das sich der Zähmung versperrt, die eine Anordnung zu einer schlüssigen Narration stets auch bedeutet. Stattdessen sind sie als Ausdrucksgesten einer (alp-)traumlogischen Weltsicht zu lesen.

Giallo PlakatLeider konnten diese Stärken des Filmemachers Dario Argento im Verlauf der letzten beiden Dekaden nur zu leicht in Vergessenheit geraten, weil seine Filme selbst sie allzu oft zu vergessen schienen. Insbesondere ab „Il Cartaio“ wurde immer offensichtlicher, dass Argento selbst sich nicht mehr so recht darüber im Klaren war, was er überhaupt tut. Hanebüchene Plotkonstrukte konnten neben seinen Horrorphantasmagorien auch seinen frühen Gialli noch verziehen werden – da eben ein Giallo und ein Kriminalfilm nicht unbedingt das Gleiche sind. Zwar von einer klassischen whodunnit-Konstellation ausgehend, untergräbt der Giallo doch regelmäßig durch seine absurden, durch nichts angedeuteten und sich damit dem kriminalistischen Ratespiel mit dem Zuschauer entziehenden Plotvolten die Form des geradlinig auf die Auflösung zustrebenden murder mystery, um sich vielmehr für Fetischismus, Obsessionen und die Ästhetik des Mordens zu interessieren. Das schöne Töten, jenseits der Pragmatik des Plots, mehr aus einem malerischen Stil gespeist denn aus der pulp finzione der titelgebenden, gelb eingebundenen Groschenromane. Das Verständnis des Filmemachens als Malen mit Licht und in der Zeit fand sich dort ausgeprägt – und kam, erst allmählich, dann unübersehbar, irgendwann in den 90er Jahren abhanden. Argentos neuere Filme sind vor allem deshalb so schlecht, weil sie an die Tradition des Giallo anzuknüpfen vorgeben, dabei aber jedes Verständnis für die gewählte Form vermissen lassen. Diese Fehler, soviel Positives vorweg, wiederholt er im programmatisch betitelten „Giallo“ eher nicht.

GialloZunächst einmal geht es Argento hier offensichtlich nicht um ein Ratespiel: Um die Identität des Mörders wird kein Geheimnis gestrickt, auch seine Motive sind so schlicht wie klar. Der Deformierte, Hässliche, der den Anblick von Schönheit nicht ertragen kann und sie deshalb zwanghaft zerstören muss, ist natürlich letztlich ein Stereo-, oder vielmehr noch: ein Archetyp. Dem gegenüber steht der nicht weniger obsessive, von den Geistern der eigenen, traumatischen Vergangenheit getriebene Ermittler, und der einzige Clou, mit dem Argento diese Konstellation ausschmückt, ist ein Besetzungscoup: Sowohl Ermittler als auch Mörder (unter dem anagrammatischen Pseudonym „Byron Deidra“) lässt Argento von Adrien Brody darstellen, dessen Performance gewissermaßen das Herz von „Giallo“ bildet. Tatsächlich passt die Traurigkeit Brodys, der ja von Wes Anderson erst jüngst zum Nachfolger Bill Murrays erkoren wurde, gut in diese Rolle, die in ihrer Verlorenheit als Spiegelbild des gelbsüchtigen Mörders durchaus glaubhaft wird. Der schizophrenen Dynamik zwischen diesen beiden Antagonisten obliegt es dann auch, „Giallo“ zu tragen, denn ansonsten ist der Film sehr schlicht gebaut. Es gibt kein Rätsel, das es zu lösen gibt, es gibt keine nachvollziehbare Ermittlung, es gibt keine Vertiefung der Beziehung zwischen Avolfi und der nach ihrer entführten Schwester suchenden Linda (Emmanuelle Seigner), es gibt nicht einmal einen wirklichen Spannungsbogen und auch nicht – wie jüngst in „La terza madre“ noch exzessiv ausgekostet – einen Hang zu extremsten Gewaltspitzen. Stattdessen bleiben nur Rudimente einer Kriminalerzählung, betont geradlinig und in nachgerade selbstparodistischer Manier nicht einmal richtig zu Ende erzählt und um die grob skizzierten Protagonisten herum arrangiert.

GialloIn dieser extremen Reduktion lässt sich „Giallo“ durchaus als eine Skelettierung seines Genres verstehen. Indem er, beinahe schon collageartig, Selbstzitate und Standardsituationen aus seinen eigenen Gialli aneinanderreiht, schafft Argento zunächst einen Resonanzraum, der über „Giallo“ als Einzelwerk hinausgreift und das gesamte Genre und seine Regularien in den Blick nimmt. Dann nimmt er sich eine Regel nach der anderen vor, bricht sie gezielt oder straft sie schlicht mit Desinteresse, bis am Ende nur noch die reine Essenz des Giallo bleibt und wir uns unversehens inmitten eines jener Alpträume wiederfinden, die Argento uns einst so unmittelbar und kompromisslos in Bild und Klang goss: Es gibt nur die schönen Mädchen und die hässlichen Männer, die sie quälen und töten – und dann gibt es noch die Melancholiker, die diese Männer jagen und damit im Grunde eher ihre eigenen Dämonen zu bannen suchen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Splatting Image Nr. 79 (September 2009).

Giallo
(USA/Italien 2009)
Regie: Dario Argento; Buch: Jim Agnew, Sean Keller, Dario Argento; Musik: Marco Werba; Kamera: Frederic Fasano; Schnitt: Roberto Silvi
Darsteller: Adrien Brody, Emmanelle Seigner, Elsa Pataky, Robert Miano, Byron Deidra u.a.
Länge: ca. 92 Min.