Fast könnte man es für das ästhetische Abschreiten von Amplituden halten, was Terry Gilliam in seinen letzten drei Filmen vollführt: Nach seinem missratenen, einer vermeintlich düsteren deutschen Romantik nachhechelndem „The Brothers Grimm“ (2005) folgte im selben Jahr mit „Tideland“ (2005) eine verstörende Reise in die Fantasiewelt eines Mädchens, das den Tod des Vaters an einer Überdosis Rauschgift miterleben und verarbeiten muss. In der Diktion der Kurvendiskussion gesprochen, befindet sich Gilliam mit seinem aktuellen Film „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ an einem Wendepunkt. Märchenhaft, aber nicht so märchenhaft wie „The Brothers Grimm“; psychonautisch, aber nicht so psychonautisch wie „Tideland“, bereitet er vielleicht alles für sein Lebenswerk „The Man who Killed Don Quichotte“ vor.
„Das Kabinett des Dr. Parnassus“ erzählt eine Geschichte voller Konflikte und Zusammenstöße: Da wäre zunächst der des titelgebenden Parnassus (Christopher Plummer) und seines ewigen Kontrahenten „Mr. Nick“ (hintergründig verkörpert vom Musiker Tom Waits) – niemand geringeres als der Teufel, der Parnassus einst nach einer Wette mit dem ewigen Leben ausstattete, nur, um ihn nun bis in alle Ewigkeiten zu verfolgen und mit neuerlichen Wetten ins Unglück zu stürzen. Dann gibt es die dreiköpfige Zirkus-Crew Parnassus‘, zu der nicht nur seine 16-jährige Tochter Valentina (Lily Cole) und der den Doktor durch die Ewigkeiten begleitende Zwerg Percy (Verne Troyer) gehören, sondern auch der Jüngling Anton (Andrew Garfield), der schwer in Valentina verliebt ist und eines Tages unverhofft Konkurrenz durch Tony (Heath Ledger / Johnny Depp / Jude Law / Colin Farrell) bekommt. Tony wird von der Russenmafia verfolgt, weil er denen Geld schuldet. Er verfügt über ein Talent, das das „Kabinett“ in den Untergang führt – oder es retten könnte: eine magische Anziehungskraft auf Frauen.
Dass diese zum Problem wird, hängt mit einer neuerlichen Wette zwischen Parnassus und Nick zusammen: Einst hatte der Teufel seinem Widersacher jedes Kind abgewettet, das in seinen Besitz übergeht, sobald es 16 Jahre alt wird. Durch eine neue Wette, die derjenige gewinnt, der zuerst fünf Seelen fängt, soll diese Abmachung annulliert werden. Und wie kann Parnassus fünf Seelen gewinnen? Indem er sie in seine Gedankenwelt entführt und dort zu glücklich(er)en Menschen macht. Und das ist ganz wörtlich zu verstehen, denn das „Kabinett“ – oder im Original „Imaginarium“- ist nichts anderes als die Gedankenwelt des Dr. Parnassus, die durch die Fantasien der in sie eintretendenProtagonisten ausstaffiert wird. Hier verschmelzen populäre Märchenthemen von „Alice im Wunderland“ bis Grimms „Rumpelstilzchen“ zu einem Amalgam wahrlich Gilliam’scher Fantastik!
Die Schwelle, die die oft allzu schnöde Gegenwart mit betrunkenen Jugendlichen, konsumsüchtigen Millionärsgattinnen und skrupellosen Russenmafiosi von jener Wunderwelt der Wunscherfüllungen trennt, ist ein Spiegel – das klassische Symbol solcher Grenzüberschreitungen. Und von diesen Übergängen erzählt jeder Film Terry Gilliams – ob es das Tor zu Walhalla in „Time Bandits“, das Abwassersystem in „Brazil“, das Zeittor in „12 Monkeys“ oder der Märchenwald in „The Brothers Grimm“ ist. Nur zeitweise – wie in „Fear and Loathing in Las Vegas“, „Tideland“ und jetzt „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ – lässt Gilliam diesen Passagen ihren Symbolgehalt als „innere Barrieren“, die entweder durch Drogen, Wahnsinn oder Halluzinationen niedergerissen werden. Denn wollte man Gilliams neuen Film den anderen beiden anbei stellen, so ließe sich die Erzählung Parnassus‘ auch als Selbstlüge und Wachtraum des Titelhelden sehen – eines alten, obdachlosen Mannes, der seine Familie verloren hat, die er jetzt nur noch im Vorbeigehen oder durch Fensterscheiben beobachten kann. Bei dieser Lektüre träfe abermals das Drama auf die Fantastik und würde Gilliams Erzählkunst zur Erzählgewalt im positivsten Sinne.
Und auch Vexier-Figuren gibt es in „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ wieder, wie sie sich in Spaltungen und Verdopplungen früherer Filme finden. Hier ist es Tony, der wie eingangs beschrieben den Widerpart zu Anton darstellt, bei genauerem Hinsehen jedoch dessen Defizite ergänzt (so wie sich sein Name von Anton zu AnTony ergänzen ließe): Das, was Anton an Mut fehlt, liefert Tony; was ihm an biografischem Profil fehlt, erhält er ebenfalls und kann so erst zu einem begehrten Objekt für Valentina werden, die Tony zunächst wie einen Posterboy bewundert und Anton übersieht, um später dessen Reifung und moralisches Bewusstsein anzuerkennen. Die Teenager Valentina und Anton übertreten damit beide auch eine Schwelle in eine andere Welt – die der Erwachsenen. In dieser ist Tony als Projektionsfläche nicht mehr nötig und kann im Imaginarium verschwinden.
Mit „Das Kabinett des Dr. Parnassus“ läuft Terry Gilliam wieder zu alter Form im Hinblick auf Erzählung und Darstellung auf, und man kann angesichts der darin verhandelten Leitmotive nur noch gespannter auf das lange erwartete und vielfach verschobene Don-Quichotte-Projekt sein. Dass sich Gilliam nicht mehr so leicht durch Fährnisse in seinen Projekten zurückschlagen lässt, hat er angesichts des Todes seines Hauptdarstellers Heath Ledger gezeigt, dessen schmerzliche Lücke im Film er gekonnt ins Drehbuch eingebaut und durch drei Schauspielerkollegen gefüllt hat, die ihre äußere Wandlung in Reisen durch das Imaginarium immer dann erstaunt feststellen, wenn sie innerhalb der Spiegelwelt ihr Spiegelbild erblicken.
Das Kabinett des Dr. Parnassus
(The Imaginarium of Doctor Parnassus, UK/Kanada/F 2009)
Regie: Terry Gilliam; Buch: Terry Gilliam & Charles McKeown; Musik: Jeff Danna, Mychael Danna; Kamera: Nicola Pecorini; Schnitt: Mick Audsley
Darsteller: Andrew Garfield, Christopher Plummer, Lily Cole, Verne Troyer, Tom Waits, Heath Ledger u. a.
Länge: 123 Minuten
Verleih: Concorde
Die DVD von Concorde
„Das Kabinett des Dr. Parnassus“ erscheint als Doppel-DVD und Blu-ray-Disc von Concorde. Beide Versionen sind reichhaltig ausgestattet. Bei der DVD befindet sich das Zusatzprogramm auf der zweiten Disc.
- Bild: 1,85:1 (16:9)
- Ton: Deutsch(DD 5.1/ DTS 5.1), Englisch (DD 5.1)
- Untertitel: Deutsch und farbige UT für Hörgeschädigte (ausblendbar)
- Extras: Entfernte Szenen, Kostümprobe mit Heath Ledger, Der Blick hinter den Spiegel, Entstehung des Klosters, Szenenaufbau – Vom Storyboard zur finalen Sequenz, Heath Ledger und seine Freunde, Interview mit Heath Ledger, Das Kabinett des Terry Gilliam, Cast & Crew, Doktor Parnassus Weltweit
- FSK: ab 12 Jahren
- Preis: 14,95 Euro (DVD), 17,95 Euro (Blu-ray-Disc)
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Eine Antwort auf „Durchgänge ins Fantastische“