Man ist verleitet, einen Film, der, wie „Acacia“, das Thema Familie so eng an das Motiv eines Baums koppelt, auf der symbolischen Ebene zu lesen und vielleicht Metaphern wie den „Stammbaum“ oder die „familiären Wurzeln“ als Strukturprinzipien der Erzählung auszumachen. Bei „Acacia“ wäre ein solches Vorgehen jedoch zu nahe liegend und würde vielleicht dazu führen, viele Facetten des Films zu übersehen oder unterkomplex und klischeehaft zu deuten. Dass man überhaupt zu solch einer Lektüre verführt wird, liegt zum einen am Untertitel, den der Verleiher e-m-s dem koreanischen Film gegeben hat (eben: „Wurzeln des Bösen“), andererseits daran, dass in „Acacia“ viele Stil- und Motivtraditionen des westlichen Kinos aufgegriffen und mit denen des ost-asiatischen Geisterfilms amalgamiert werden.
Dies beginnt schon bei der Story, die ein Abkömmling all jener „Böse Kinder“-Filme im Gefolge von „The Omen“ und „Exorzist“, darzustellen scheint. Die erste Hälfte des Films wird nämlich in der Tat ein unheimliches und mehr und mehr auch böse scheinendes Kind charakterisiert. Der Junge Jin-seong (Oh-bin Mun) wird als Waise vom Kinderlosen Paar Do-il (Jin-geun Kim) und Mi-sook (Hye-jin Shim) adoptiert. Der in sich gekehrte, mysteriös wirkende Junge, der tagein tagaus düster-bedrohliche Bilder von Bäumen malt, vermag keine emotionale Beziehung zu seinen Adoptiveltern zu entwickeln und verbringt stattdessen mehr und mehr Zeit mit einem blätterlosen Akazienbaum hinter dem Haus, von dem er meint, er sei seine verstorbene Mutter. Als Do-il und Mi-sook wider Erwarten doch ein eigenes Kind bekommen, beginnt Jin-seong Aggressionen gegenüber der neuen Familie und vor allem dem Nachwuchs auszuagieren. In der zentralen Szene des Films eskaliert der Streit und der Junge läuft davon.
Bis zu diesem Punkt funktioniert „Acacia“ wie ein europäischer oder US-amerikanischer Film, der von der Paradoxität der „schuldigen Unschuld“ eines Kindes erzählt, die auch in Filmen der jüngeren Zeit (etwa „Joshua“, USA 2007, George Ratliff) noch variiert wird. Diese Anmutung zieht sich bis hin in die Auswahl des Soundtracks, der in der ersten Hälfte auf westliche Komponisten wie Eric Satie oder Edward Grieg zurück greift. Und man ist als Zuschauer nicht nur bereit, dieses genrehafte Erzählklischee anzunehmen und der Lektüre von „Acacia“ als Struktur zu unterlegen; selbst, als sich die Dinge ändern und ab der zweiten Hälfte ein unbestimmter und unbegründeter Horror in den Plot einbricht, fragt man immer noch eher nach der Schuld des Kindes als nach der der Erwachsenen. Aber genau an dieser Stelle beginnt „Acacia“ ein asiatischer Geisterfilm zu werden und die Erzählparadigmen desselben zu kolportieren. Der Junge bleibt nämlich nicht verschwunden; er kehrt geisterhaft in den Tag- und Nachtträumen seiner Pflegeeltern immer wieder nach Hause zurück, weist schwere Verwundungen auf, deutet auf erlebte Gewalt hin und bekommt vor allem in der Spiegelung eines kleinen Nachbarmädchens, das vor seinem Verschwinden mit ihm befreundet war, mehr und mehr die Funktion eines Anklägers.
„Acacia“ ist damit ein verwirrendes, ja, im wohlmeinendsten Sinne „unzuverlässiges“ filmisches Erzählprodukt, weil der Film einerseits die Seherfahrungen und Genreerwartungen gerade seiner westlichen Zuschauer ausnutzt, um logische Brüche zu erzeugen. Andererseits instrumentalisiert er vor allem seine optische Ebene, um diese Eindrücke zu untermalen. Wie nur selten in anderen Filmen zu sehen, nutzt „Acacia“ die Bildebene, um kommentierend und nicht selten auch konterkarierend zum Plot zeigend zu erzählen. Genutzt werden dabei Kamerafahrten, Zooms (!), Schwenks, Spiele mit Farbkontrasten,, Blenden, Fokusverschiebungen, Tiefenschärfe und Montageformen. Mit diesen Mitteln wächst der Film zu einem vieldeutig visuellen Werk heran, das die Reduktion der Story zu einer bloßen Allegorie (sei’s als „Böses Kind“- oder als Geisterfilm) konsequent unterläuft.
Dass dies dem Film, der letztlich eine überaus tragische und eigentlich sogar keineswegs horrible Geschichte erzählt, gelingt, ist im Wesentlichen dem verführerischen Spiel seiner Darsteller zu verdanken. Allen voran leistet der Darsteller des kleinen Sin-jeong Beachtliches zum Gelingen des Verwirrspiels. Doch auch das Elternpaar, das ab dem Moment, wo Sin-jeong verschwindet, mehr und mehr scheinbar irrationale Handlungen und Dialoge vollzieht, legt eine bravouröse Leistung hin – muss es doch gerade diese Brüche so „überspielen“, dass man den Film nicht einfach als „inkonsequent erzählt“ aufgibt, bevor sich einem der Abgrund des Plottwists sukzessive eröffnet und im Nachhinein dann doch all die Brüche und Widersprüche einen Sinn ergeben. „Acacia“ ist letztlich ein großartiges Beispiel dafür, wie man durch Aufgreifen von zwei Stiltraditionen (ost-asiatisch und westlich), zwei Genrekonventionen („Böses Kind“-Film und Geisterfilm) und das Verquicken von zwei Erzählweisen (eine Plot-gestützten und einer Bild-gestützten) nicht nur eine gelungene spielfilmischerische Reflexion über das Funktionieren der jeweiligen Einzelaspekte anstellen kann, sondern auch einen spannenden, gruseligen und vor allem ästhetisch abwechslungsreichen Spielfilm realisieren kann.
Acacia
(Süd-Korea 2003)
Regie & Buch: Ki-hyeong Park; Musik: Man-Sik Choi; Kamera: Hyeon-je Oh; Schnitt: Seong-weon Ham
Darsteller: Hye-jin Shim, Jin-geun Kim, Oh-bin Mun, Na-yoon Jeong u. a.
Länge: 103 Minuten
Verlein: e-m-s
Die DVD von e-m-s
Der Film wird in einer anamorphen Widescreen-Fassung angeboten, was die angesprochenen Bildästhetiken voll zur Geltung bringt. Auch in der Farbgebung und beim Ton hat man sich große Mühe gegeben, ein möglichst sauberes und kontrastreiches Ergebnis zu erzielen. Ergänzt wird die DVD durch ein Making of und Interviews mit den Darstellern und dem Regisseur sowie andere Extras.
Die Ausstattung der DVD im Einzelnen:
Bild: Widescreen anamorph (2,35:1)
Ton deutsch & koreanisch (DD 5.1)
Untertitel: deutsch
Extras: Making of, Originaltrailer, Interviews, Bildergalerie
FSK: ab 16 Jahren
Preis: 14,95 Euro