Sicher, dass am Beginn einer Erzählung der Verzehr einer Süßspeise steht, das ist nicht neu. Und das sich der gemeinsame Genuss einer solchen Kleinigkeit schon mal zu einer amourösen Eskapade ausweiten kann, soll es auch schon gegeben haben. Dass es sich dabei allerdings um einen Blaubeerkuchen mit Vanilleeis handelte ist nicht bekannt und man kann auch nicht unbedingt sagen, dass der Blaubeerkuchen zu den traditionellen fernöstlichen Spezialitäten zählt. Wie jedoch Wong-Kar-Wai, dessen Werk tief im asiatischen Kontext verwurzelt ist, in My Blueberry Nights so herkömmliche Hollywood-Zutaten wie Lovestory, Road-Movie und Melodram zusammen anrichtet, das ist alles andere als bloße Zuckerbäckerei, sondern virtuos inszeniertes Gefühlskino.
Obwohl auf den ersten Blick gar nicht so furchtbar viel passiert in diesem Film, die Story anfänglich sogar ein wenig zögerlich in Fahrt kommt. Jeremy (Jude Law) führt ein Café in New York, in das sich eines Tages die junge Elizabeth verirrt. Beide teilen die Vorliebe für Gebäck und gescheiterte Beziehungen, aber leider verschwindet Elizabeth genauso schnell wieder, wie sie gekommen ist. Von da an hält Jeremy ihr täglich einen Platz mit Kuchengedeck frei, während sich die vielen Postkarten, die er der Verflossenen hinterherschreibt und die allesamt zurückkommen, zu einem traurigschönen Berg an Sehnsucht stapeln.
Die Geschichte klingt nach einem alten Hut und dem entsprechend schmachtet es im Titelsong kokett: „I don´t know how to begin, cause the story has been told before“. Da klingt sie schon an, die wundersame Suche nach den Gefühlen und den richtigen Bildern. Bis dann der Blues einsetzt. Ein richtig staubiger, stampfender Südstaaten-Blues, der im Rhythmus der Zugräder von tiefer Schwermut und dem Drang nach Veränderung kündet. Genau das ist der Grundton von My Blueberry Nights, die Melancholie der Entdeckung.
Das Abenteuer, es beginnt schon bei der reichlich waghalsigen Besetzung, die mit dem Jazzsternchen Norah Jones eine völlig unerfahrene Schauspielerin in den Mittelpunkt stellt, der zu alledem mit Rachel Weisz und Natalie Portman auch noch zwei nahezu identische Nebenfiguren mitgegeben werden. Um es gleich vorwegzunehmen: das erweist sich als brillianter Griff. Denn hinter der gleichartigen Schönheit dieses Trios, hinter dem brünetten Charme, verbergen sich die unterschiedlichsten Temperamente. Der besondere Reiz liegt gerade in der wiederholten Überzeichnung ihrer Gesichter, ihrem permanenten Wechselspiel mit den feinen Abstufungen im Ausdruck. Wie in einer Matruschka, einer russischen Bauchpuppe, steckt in jeder immer noch ein kleineres, zerbrechlicheres Double drin, oder eben ein härteres.
Dieser Bruch mit der typischen Rollenbesetzung zugunsten einer multiplen Figur – wie das soeben auch in Todd Haynes Dylan-Porträt I´m not there eindrucksvoll zu sehen ist – ermöglicht eine Art Expedition. Eine Studie des Weiblichen schlechthin, einschließlich all der Imaginationen, Projektionen und Selbsttäuschungen, die ihre Authentizität gerade aus der Unerfahrenheit der Hauptdarstellerin bezieht. Norah Jones tastet sich förmlich in ihr Spiel hinein, flirtet immer öfter mit der Kamera und entdeckt sich als Schauspielerin im Lauf der Geschichte selbst. Es ist das Doppelbödige, das im Kern der Geschichte liegt, die von der Selbstermächtigung auf fremden Terrain erzählt. Man muss den Film als Anti-Western verstehen, der Frauen bei der Eroberung ihrer Freiheit zeigt, wie sie die Männer abschütteln, sich ihr Geld nehmen und obendrein noch ihre Autos.
Weil aber jedes ordentliche Road-Movie im Grunde ein Liebesfilm ist, beginnt auch dieser zunächst mit einer Enttäuschung, wofür selbstverständlich die Männer verantwortlich sind. Von Jeremy aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt, nimmt Elizabeth auf den paar Metern bis zum nächsten Rendezvous kurzerhand den längstmöglichen Weg über die Straße und dehnt so den kurzen Augenblick zwischen zwei Küssen zu einer Odyssee einmal quer durch Amerika und wieder zurück. Nach dem Trip wird Elizabeth nicht mehr dieselbe sein und genau das ist das Ziel. „Manchmal braucht man ein Gegenüber, um sich selbst zu erkennen,“ wird am Ende ihr Fazit lauten. Gegenüber sind natürlich Sue Lynne (Weisz) und Leslie (Portman), die anderen starken Frauen auf der Suche. Und nicht zuletzt die Weite Amerikas.
Ohnegleichen ist Kar Wais Kunst, die gegensätzlichsten Facetten der amerikanischen Landschaft, vom kosmopolitischen Gedränge New Yorks bis zur flirrenden Steppe Las Vegas, in den Innenräumen zu konzentrieren. Geradezu induktiv lässt sich etwa die spießige Idylle des ländlichen Missouri in der Bar, in der Elizabeth arbeitet, fassen. Ob übertrieben puffiges Licht oder die sympathische Plumpheit der Besucher (famos: David Strathairns Auftritt als liebeskranker Polizist), alles in den subtil inszenierten Dekors atmet die Eigentümlichkeit des Ortes, den speziellen Geruch der Landschaft und die Mentalität ihrer Bewohner. Derartig genau beobachten kann nur, wer neugierig und unbefangen zugleich ist, so entwirft der Chinese Kar-Wai ein beispielhaftes Amerikabild und entdeckt sich nebenbei als Regisseur neu.
In My Blueberry Nights scheint das Zwanghafte, das Zurückhaltende und Zurückgehaltene seiner früheren Arbeiten aufgehoben. Wo sonst die Kamera immer auf Distanz blieb oder in der gestauten Perspektive des Voyeurs verharrte, der hinter einer Wand, einem Fenster oder vorzugsweise hinter einem Vorhang Schutz sucht, da überwiegt jetzt eine fast intime Nähe zu den Figuren, macht sich Vertraulichkeit in warmen Rottönen breit. Was in 2046 noch unter die Oberfläche zurückwich, die Unfähigkeit der Männer ebenso wie die Duldsamkeit der Frauen, wird nun lautstark verhandelt, ob in der Bar oder am Roulette-Tisch (mit einer burlesken James-Bond-Hommage). Bei diesem emotionalen Vabanque preschen vor allem die Frauen vor, ihr Begehren drängt ins Freie, raus auf den Highway. Die Unfähigkeit der Männer jedoch bleibt. Sie ertränken ihren Schmerz am Tresen und finden auf der Straße höchstens noch den Tod. Die Frauen fahren weiter.
Wie Elizabeth. Die kommt irgendwann wieder an, in Jeremys Café, um sich dort einen der schönsten Film-Küsse überhaupt abzuholen. Ein Kuss wie ein Liebestanz, suggestiv, lustvoll, unwiderstehlich. Wir erleben ihn von innen und gleichzeitig auch von außen, das heißt, innen und außen scheinen für einen kurzen Moment aufgehoben. Alles ist pure Präsenz und doch völlig schwerlos und schwindelerregend schön. Danach gibt es dann erstmal ein Stück Blaubeerkuchen mit Vanilleeis und Sahne. Eigentlich eine ziemlich üppige Angelegenheit, aber in diesem Fall leicht wie ein Madeleine.
My Blueberry Nights
(Hongkong/Frankreich, 2007)
Regie: Wong Kar-Wai, Drehbuch: Wong Kar-Wai u. Lawrence Block, Kamera: Darius Khondji, Musik: Ry Cooder, Schnitt: William Chang
Darsteller: Norah Jones, Jude Law, Natalie Portman, Rachel Weisz, David Strathairn u. a.
Prokino Verleih
Länge: 95 Minuten