Die Lücke, die der Teufel lässt

Was wäre das Kino ohne seine großen Mythen von den Unvollendeten? Von den Meisterwerken, die es nie gegeben hat und die doch Lücken lassen, welche mit den Sehnsüchten all jener, die das Kino lieben, gefüllt werden? Kubricks „Napoleon“, Tarkovskijs „Hamlet“, Welles’ oder Gilliams „Don Quixote“ – oder die ursprüngliche, neunstündige Fassung von Stroheims „Greed“? Der legendenumwobene sechsstündige Rohschnitt von Ciminos „Heaven’s Gate“, oder ein echter Director’s Cut von Scorseses „Gangs of New York“? Die Träume, die an diesen Lücken hängen, sind stets so übergroß, dass kein Film ihnen jemals gerecht werden könnte, und fast scheint es, als wäre das Kino als Projektionsfläche für solcherlei Träume am wirksamsten dort, wo es gar keinen Film mehr projiziert.

Zu den größten Mythen des französischen Kinos gehört zweifelsohne „L’Enfer“, jenes mit Romy Schneider und Serge Reggiani fulminant besetzte Ehedrama, das Henri-Georges Clouzot 1964 zu drehen begann und niemals vollendete. Ein Hauptwerk sollte es zweifelsohne werden, das Kino revolutionieren und seinem von den jungen Wilden aus dem Umfeld der Cahiers du cinéma misstrauisch beäugten Regisseur den Anschluss an die Nouvelle Vague garantieren. Die Bedingungen schienen überdies hervorragend: die koproduzierende Columbia Pictures hatte der Produktion nach Ansicht erster Testaufnahmen unlimitiertes Budget genehmigt, und Clouzot hatte für jeden Bereich die renommiertesten und besten Künstler engagiert. Doch schnell geriet der Dreh ins Stocken: Der als Perfektionist berüchtigte Clouzot ließ noch die winzigsten Details endlos wiederholen, probte lange Tage, ohne jemals zu einem Ergebnis zu kommen, das ihn zufriedenzustellen vermochte, schraubte buchstäblich Tag und Nacht an seiner ultimativen künstlerischen Vision jenes Films, der sein größter, sein Lebenswerk sein sollte. Bald begann die Situation am Set, immer angespannter zu werden, und die erste Katastrophe trat ein, als der von Clouzot wohl besonders gemarterte Hauptdarsteller Reggiani mit mysteriösen, mutmaßlich psychischen Symptomen ins Krankenhaus eingeliefert wurde und den Dreh abbrechen musste. Kurzfristig wurde er durch Jean-Louis Trintignant ersetzt, doch der drehte nicht eine einzige Szene, bevor der Dreh nach einem Herzinfarkt von Clouzot endgültig abgebrochen wurde.

Insgesamt entstanden knapp 14 Stunden belichtetes Filmmaterial, die jedoch ohne Tonspur in einem französischen Filmarchiv die Jahrzehnte überdauerten. Den Versuch des genesenen Clouzot, die Dreharbeiten wieder aufzunehmen, wussten die zunehmend beunruhigten Versicherungen der Produktionsfirmen zu verhindern, und obgleich Gerüchte um eine von Clouzot selbst montierte, aber verschollene Schnittfassung bis heute nicht verstummt sind, muss „L’Enfer“ wohl auf ewig zu den spektakulär gescheiterten Filmen der Kinogeschichte gerechnet werden. Ironisch genug, dass der seinerzeit unter den jungen Filmemachern der Nouvelle Vague, an die Routinier Clouzot seinerzeit so verzweifelt den Anschluss suchte, höchst geschätzte Claude Chabrol sich 30 Jahre später Clouzots Skript vornahm und daraus einen ebenso biederen Film strickte, wie der selbst ihn explizit nicht inszenieren wollte.

Das große Verdienst der Filmemacher Serge Bromberg und Ruxandra Medrea, die unter großer öffentlicher Beachtung jedenfalls innerhalb Frankreichs den Dokumentarfilm „L’Enfer d’Henri-Georges Clouzot“ publiziert haben, besteht sicherlich darin, das faszinierende Material, das Clouzot 1964 abdrehte und das seither auch aufgrund von juristischen Problem niemand zu Gesicht bekam, aufzuarbeiten und wieder verfügbar zu machen. Tatsächlich sind die psychedelischen, technicolorsatten Trickaufnahmen, in denen Clouzot insbesondere seinen großen weiblichen Star Romy Schneider ins Bild setzte, überwältigend und dürften im Kino der mittleren 60er Jahre durchaus ohne Vergleich gewesen sein. Dieses Material allein trägt dann die spielfilmlange Dokumentation auch mühelos – über das Drumherum freilich müssen doch einige kritische Worte verloren werden.

Die editorische Vorgehensweise von Bromberg und Medrea nämlich ist jedenfalls zweifelhaft, insofern die Filmemacher das Material nicht für sich stehen lassen, sondern oftmals arg plakative Tonspuren darüber legen, teils gar den überlieferungsbedingt stummen Darstellern Dialoge in den Mund synchronisieren sowie fehlende Sequenzen von zwei mäßig begabten Schauspielern in betont abstraktem Studiosetting nachspielen lassen. Der Gedanke dahinter wird deutlich: es geht den Filmemachern nicht um eine bloße Erfassung des Materials, sondern um eine poetische Neu- oder Erstschöpfung eines Films, der sich Clouzots Vision ehrfürchtig annähern soll. Das ist ein durchaus respektables Vorhaben, funktioniert aber nur durchwachsen, scheint hin und wieder gar im Auseinanderklaffen von Clouzots Bildern und dem von Bromberg und Medrea Hinzugefügten ein wenig anmaßend. Überdies kollidiert dieses Vorhaben immer wieder mit den konventionelleren Versatzstücken von „L’Enfer d’Henri-Georges Clouzot“, die im Stil des deutsch-französischen Bildungsfernsehens allerlei talking heads aneinanderreihen, was das große Kino, an das die ambitionierteren Kunstgriffe der Inszenierung anknüpfen sollen, immer wieder auf ein wenig bieder anmutendes TV-Niveau herunter bricht.

Romy Schneider nacktLetzten Endes aber können all diese Unebenheiten „L’Enfer d’Henri-Georges Clouzot“ nur mäßig schaden: in formaler Hinsicht kaum, weil das aufgearbeitete Material so überaus faszinierend ist, dass es für sich genommen bereits genug Kraft ausstrahlt. Und in editorischer Hinsicht werden die Kritikpunkte vom Ansatz der Filmemacher beiseite gewischt, die sich hier offenkundig nicht der sauberen filmhistorischen Arbeit verpflichtet fühlen, sondern der Mythenpflege des Kinos. „If the legend becomes fact, print the legend“, so hieß es nur zwei Jahre vor der hier erzählten Geschichte bei John Ford, und in dieser Tradition steht auch diese dokumentarisch Was-Wäre-Wenn-Fantasie. Was nämlich wäre das Kino ohne seine großen Mythen? Um etliche Träume ärmer.

Die Hölle von Henri-Georges Clouzot
(L’Enfer d’Henri-Georges Clouzot, Frankreich 2009)
Regie: Serge Bromberg & Ruxandra Medrea; Buch: Serge Bromberg; Musik: Bruno Alexiu; Kamera: Jérôme Krumenacker, Irina Lubtchansky; Schnitt: Janice Jones, Antoine Jesel
Darsteller: Romy Schneider, Serge Reggiani, Bérénice Bejo, Jacques Gamblin
Länge: 94 Min.
Verleih: Arthaus

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Das Glanzlicht der Edition ist zweifelsohne der als Bonusfilm auf der 2. DVD enthaltene Film „La prisonnière“, welcher die letzte Regiearbeit Clouzots darstellt. In diesem Film wendet er eine ganze Reihe der Trickeffekte an, die er während der Dreharbeiten zu „L’Enfer“ entwickelte. In gewisser Hinsicht stellt sich natürlich die Frage, ob es nicht sinniger gewesen wäre, den vollendeten Film Clouzots als Hauptfilm zu veröffentlichen und Brombergs/Medreas Dokumentation in das Bonusmaterial zu verbannen, aber dem Umstand, dass hier ein wirklich ansprechendes cinephiles Paket geschnürt wurde, tut diese Detailfrage natürlich keinerlei Abbruch.

Bild: 1,78:1 (anamorph)
Ton: Französisch (Dolby Digital 2.0)
Untertitel: Deutsch (optional)
Extras: „Seine Gefangene“ (La prisonnière, 1968, Henri-Georges Clouzot), Dokumentation „Sie haben die Hölle gesehen“ (57 Min.), Interview mit Serge Bromberg (18 Min.), Trailer, Bildergalerie, Booklet
FSK: ab 16 Jahren

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