Die Hölle, das sind die anderen?

Selbstjustizfilme scheinen immer einen Sozialpessimismus zu vertreten, eine gesellschaftliche Umkehrung hegelianischer Geschichtsteleologie zu diagnostizieren: Anstatt nach vorn, einer goldenen Zukunft entgegen, bewegt sich die menschliche Zivilisation in einen Zustand der Barbarei zurück. Dieser Entwicklung begegnet der Vigilant mit Gewalt; zwar meist aus einem rein persönlichen Beweggrund heraus, doch scheint er ja auch ein geeignetes Beispiel dafür abzugeben, wie man dem Niedergang der Menschheit Einhalt gebieten könnte. Die moralische Aporie, in die sein Verhalten ihn jedoch führt, ist Problem wie Kniff des Selbstjustizfilms, der genau an jener Schnittstelle ansetzt, an der sich Recht und Emotion berühren und den Blick trüben. Auch „Harry Brown“ diagnostiziert – anscheinend – zunächst den moralischen Verfall einer immer gewalttätiger werdenden Jugend, der der Protagonist des Films nur noch mit einem Mittel beikommen kann. Doch die Realität sieht anders aus …

Harry Brown (Michael Caine), ein Rentner, dessen Frau verstorben ist und der immer noch unter den Eindrücken leidet, die sein Einsatz in Nordirland hinterlassen hat, lebt in einer trostlosen britischen Plattenbausiedlung. Die Wände sind mit Graffitis besprüht, im Fußgängertunnel vor seinem Haus treffen sich täglich die Jugendlichen, um zu saufen und sich zu prügeln, und in Harrys Stammkneipe, in der er sich täglich mit seinem besten Freund Leonard (David Bradley) trifft, verkaufen abgerissen aussehende Gestalten Drogen. Als Leo sich gegen die ihn terrorisierenden Jugendlichen zur Wehr setzt und ermordet wird, beschließt Harry, etwas zu unternehmen. Er besorgt sich Waffen und startet seine private Aufräumaktion …

Der oben beschriebene urbane Selbstjustizfilm hat eine Tradition, die bis in die Siebzigerjahre zurückreicht, als Michael Winners „Ein Mann sieht rot“ Kinokassen klingeln und Feuilletonisten auf die Barrikaden klettern ließ. Winner ließ seinen wohl erzogenen, erfolgreichen und bürgerlichen Protagonisten Paul Kersey (Charles Bronson) zum alttestamentarischen Rächer auf- bzw. eher absteigen und den Kick der unmoralischen Handlung spüren und lieferte damit einen quasireaktionären Gegenentwurf zum sozialpädagogisch ausgebildeten Streetworker von heute. Schon damals vertraten Kersey und der ihn gewähren lassende Polizist Ochoa (Vincent Gardenia) die Ansicht, dass die Jugend keinen Respekt mehr habe, sich geradezu bestialisch verhalte, nicht mehr resozialisierbar sei und demzufolge nur eine Antwort verdiene. Dass „Harry Brown“ der Jugend mehr als 30 Jahre und etliche ähnlich gelagerte Filme später ein ganz ähnliches Zeugnis ausstellt, zeigt recht deutlich, wie wenig er über eine angeblich kontinuierliche Brutalisierung der Gesellschaft und wie viel stattdessen über die Wahrnehmung derer aussagt, die eine solche immer wieder behaupten.

Mit siffigen Bildern urbanen Verfalls, einer farbfilterunterstützten Stilisierung seines kriminellen Milieus, die an die Gemälde von Hieronymus Bosch denken lässt, und der Zeichnung seiner Antagonisten als tollwütige Tiere macht Regisseur Daniel Barber recht deutlich, dass es ihm nicht um eine realistische Abbildung der Welt, sondern vor allem um die Affektsteuerung geht. Doch leider betrachtet er das als Freibrief dazu, so dick wie nur möglich aufzutragen: Harry Brown muss förmlich in die Hölle hinabsteigen, um die Mörder seines Freundes zu rächen – und der Zuschauer muss ihm auf diesem Weg folgen. Es ist leicht, den Blickwinkel Harrys einzunehmen, weil Barbers Regie den Zuschauer dazu zwingt: In der Darstellung der Verbrecher kennt er keine Zurückhaltung. Doch wenn der alternde Kriegsveteran dann behauptet, die urbane Gewalt übertreffe alles, was er im Krieg gesehen habe, weil es damals um eine „Sache“ ging, heute jedoch nur noch um Fun, so liefert er damit auch den Schlüssel zur Distanzierung. Um den größeren gesellschaftlichen Kontext, in dem die dargestellte Kriminalität anzusiedeln ist und dem auch Harry Brown seine seelischen Narben zu verdanken hat, zu erkennen, bedarf es wohl einer Außenperspektive, die Harry nicht einnehmen kann, weil er selbst Teil des Bildes ist.

„Harry Brown“ ist natürlich zuerst ein Film, der seinem Hauptdarsteller Michael Caine ein Podest liefert. Anders als Eastwood in „Gran Torino“, der von der Kritik bislang als Vergleich herangezogen wird, revitalisiert Caine aber keine abgelegte Persona. Wo Eastwoods Walt Kowalski als ins Rentnerdasein weiter gedachter Harry Calahan verstanden werden kann, sind die Brüche zwischen Caines Jack Carter aus dem legendären britischen Crime-Thriller „Jack rechnet ab“ von 1971, mit dem er zum Inbegriff des coolen britischen Killers wurde, und seinem Harry Brown unübersehbar. Verübte ersterer seine Rachemorde mit der Kaltschnäuzigkeit und Regungslosigkeit eines Profikillers, lässt Brown nach seinem ersten Mord eher an einen trockenen Alkoholiker denken, der gegen besseres Wissen wieder einen Schluck aus der Pulle genommen hat. Es ist diese Interpretation Caines, die „Harry Brown“ auszeichnet und zu dem Ziel führt, das Barber mit seiner Geisterbahninszenierung ein ganzes Stück zu verfehlen droht.

Harry Brown
(Großbritannien 2009)
Regie: Daniel Barber; Drehbuch: Gary Young; Musik: Ruth Barrett, Martin Phipps; Kamera: Martin Ruhe; Schnitt: Joe Walker
Darsteller: Michael Caine, Emily Mortimer, Charlie Creed-Miles, David Bradley, Iain Glen
Länge: ca. 100 Minuten
Verleih: Ascot Elite


Zur DVD von Ascot Elite

Bild: 2,35:1 (16:9/anamorph)
Ton:
Deutsch, Englisch (Dolby Digital 5.1), Deutsch (DTS 5.1)
Extras:
Trailer, Deleted Scenes, Interviews, Behind the Scenes
Freigabe: FSK 16
Preis: 14,99 EUR

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