Die Geburt des urbanen Grauens aus dem Musikfernsehen.

»Der Himmel über dem Hafen
hatte die Farbe eines Fernsehers,
der auf einen toten Kanal eingestellt ist.«
(William Gibson: Neuromancer)

»Ich will ihn schon die ganze Zeit davon überzeugen,
dass wir zusammen einen Zombiefilm machen.
Wenn Chris den drehen würde, wäre das der beste verdammte Zombiefilm ever.
Aber er macht sich zuviel Gedanken um sein Bild in der Öffentlichkeit
und will nicht so recht.«
(Aphex Twin)

1. Bio

Chris Cunningham (*1970) beginnt mit 16 Jahren die Arbeit für ein Special Effects-Unternehmen. Er baut Modelle für Spielfilme wie Clive Barkers Nightbreed (US 1990) oder David Finchers Alien 3 (US 1992). In Alien 3 zeichnet er für den Bau des Aliens nach dem Design des Schweizer Künstlers Hans Ruedi Giger verantwortlich. Danach arbeitet er zwei Jahre an Roboter-Designs für das Stanley Kubrick-Projekt A.I., das letztlich von Steven Spielberg im Jahr 2001 realisiert wird. Spielberg besetzt allerdings ausschließlich Schauspieler für die Rollen der Menschmaschinen. Cunningham beginnt danach, Musikvideos zu drehen. 1997 wird er mit dem Video zu Come to Daddy des britischen Elektronikkünstlers Richard D. James alias Aphex Twin schlagartig bekannt. Er realisiert die Musikvideos zu Autechres Second Bad Vilbel (1996), Placebos 36 Degrees (1996), Squarepushers Come on My Selector (1997), Portisheads Only You (1998), Leftfields Africa Shox (1999) und als direkte Fortsetzung von Come to Daddy Aphex Twins Windowlicker (1999). 1998 visualisiert er Madonnas erste Singleauskopplung Frozen aus dem Album Ray of Light. 1999 dreht Cunningham das Video zu Björks All is Full of Love des Albums Homogenic, in dem er das Cyborg-Thema aus früheren Videos wieder aufgreift. Neben Musikvideos dreht Cunningham Kurzfilme wie Monkey Drummer (2000), der mit Musik von Aphex Twin unterlegt ist, oder Flex (2000), der von der Verschleifung von sexueller Attraktion und Gewalt zwischen den Geschlechtern handelt. Die kurzen Filme sind bis jetzt ausschließlich auf Kunstausstellungen und Festivals zu sehen.

2. Informationstheorie

Mit der jungen Kunstform des Musikvideos oder Videoclips ist eine neue Qualität in der Verschränkung von Körperlichkeit und Medialität erreicht, die sich vor allem als Thematisierung der eigenen hybriden medialen Grundlagen offenbart. Die selbstreferenziellen Qualitäten von Videoclips zeigen sich dabei immer wieder in der Verwendung verschiedener Variationen der mise en abyme-Figur als Inszenierung von Medien in Medien. In Videoclips vereinen sich Musikfernsehen, Werbespot, Experimental- und Erzählfilm zu einer neuen audiovisuellen Kurzform. Cunninghams Clip Come to Daddy besticht vor allem durch zwei Momente: Zum ersten nimmt er Marshall McLuhans Theorem wörtlich, dass der Inhalt eines Mediums immer ein anderes Medium ist und setzt diese Aussage an den Beginn einer Geschichte, die von der Geburt eines Monsters aus dem Musikfernsehen erzählt. Zum zweiten versieht der Clip mit dieser Geschichte die für jede Kommunikation geltende Informationstheorie Claude Elwood Shannons nicht nur mit einer narrativen Struktur, sondern auch mit einem Körper, filmt also die Theorie seiner eigenen Übertragung ab. Shannons bekanntes mathematisches Kommunikationsmodell beschreibt in aller Kürze die Transmission von Information von einer Quelle zu einem Empfänger über einen Kanal. Die Information im Kanal ist sowohl geordnet (Signal) als auch ungeordnet (Rauschen/noise). Wenn man dieses Modell in kinematographische Bilder umsetzte und dabei, nach Ulf Poschardt, wie Cunningham „den Glauben an das Fleisch nicht aufgegeben hat“ (Poschardt 2004: 16), dann käme man, wie Come to Daddy, auf eine Hybridisierung von Körper und Medien, die nur in einem organischen Geburtsvorgang aus den Medien enden kann. Dieser Prozess stützt sich in dem Clip allerdings notwendig auf ein Arsenal grotesker und blasphemischer Figurationen, die vor allem dem Archiv des modernen Horrorfilms, namentlich den Filmen David Cronenbergs und des Teufelsfilms der 1970er Jahre, entspringen.

Die mediale Verschachtelung in Come to Daddy zeigt sich somit als die Öffnung eines Informationskanals zwischen der diegetischen Umwelt und einem verborgenen Raum in den Medien, der auf geradezu kosmisch-elektrische Weise in einem Fernsehgerät wie in einem Fenster zur Hölle sichtbar und zum Einfallstor für das phantastische Monster in unsere Welt wird. Der Fernsehbildschirm verspricht nach seiner Aktivierung die Existenz eines latenten Raums, eines nicht mehr darstellbaren Jenseits hinter und unter der medialen Oberfläche, der durchaus als mediale Fortsetzung eines sozialpsychologischen „kollektiven Unbewussten“ gelesen werden kann. Dieser Fernsehraum faltet und stülpt sich im Sinne von Jacques Derridas gattungstransgredierender invagination (Derrida 1992: 238) in der Diegese des Clips in seine Umwelt hinein und gebiert ein Fernsehmonster, das religiöse Verehrung einfordert und ein blasphemisches Pendant zur christlichen Trinität Gottes darstellt. The medium is the message. Der monströsen Botschaft aus dem Fernsehen, die Signal und Rauschen zugleich beinhaltet, muss eine Gestalt verliehen werden. Der Körper der Kreatur, die Maske oder das Gesicht des jenseitigen Fernsehraums (prosopopoiia), ist aber kein Nachrichtensprecher, kein Fernsehmoderator und auch nicht mehr der Götterbote Hermes oder gar ein Engel, wie noch die Figuren der Informationstheorie Michel Serres’ nach Shannon suggerieren (Serres 1995), sondern der Mittler dessen, was sich hinter dem Bildschirm befindet, ist ein Monster: Es ist die Verkörperung des Rauschens, des Parasiten (bruit parasite), der im Informationskanal hockt (Serres 1987) und zugleich der Advent des Antichristen, des Nachkommen von Lucifer, des gefallenen Lichtbringers. Dieser haust inzwischen zeitgemäß in der hellen Scheinwelt des Fernsehens, genauer: in der Videoclip-Hölle des Musikfernsehens, und seine Fleisch gewordene Botschaft, so Come to Daddy, ist die jugendliche Gewalt in den Vorstädten (suburbia).

3. Diegese

Come to Daddy ist in einem blaugrünstichigen Ton gefiltert, markiert also zu Beginn schon eine Differenz im Farbspektrum und damit eine unaufholbare Verschiebung in den Raum des Imaginären hinein. Zunächst wird die graue, monotone Hochhaus- und Betonlandschaft einer Vorstadt aus einer schief gehaltenen Untersicht eingeführt. Die Decke einer Unterführung schneidet den Horizont schräg ab. Eine alte Frau – weißes Haar, heller Mantel, Turnschuhe und eine Brille mit sehr großen Gläsern – führt ihren weißen Hund an einer Leine durch die Hochhausschluchten. Einleitend werden die Bilder der Exposition unterbrochen und stakkatoartig eingeschnitten. Die Insert-Bilder zeigen im Kontrast zum kühlen Blaugrün des Erzählstrangs eine Rotverschiebung. Das an Leonardo da Vincis Graphik vom Menschen als Maß aller Dinge erinnernde Doppel-Logo von Aphex Twin – das Piktogramm eines Menschen in einem Kreis und ein diagonaler Pfeil, der ebenfalls in einem Kreis von links unten nach rechts oben führt – wird nacheinander links unten im Kader in schnell wechselnden Frames eingeblendet, die Funken und Flüssigkeit in einer Seitwärtsbewegung zeigen. Die Bilder konnotieren einen Schweißvorgang, der die Montage der Bilder selbst thematisiert. Der gesamte Videoclip wird danach immer wieder von Störstreifen, Flackern und Rauschen unterbrochen.

In der Mitte eines Hofes zwischen den Hochhäusern liegt ein umgekippter Einkaufswagen in einer großen Pfütze. Neben einigem Müll liegt dort ein schwarzes und neu aussehendes Fernsehgerät. Die Frau mit dem Hund betrachtet zunächst die Szene, schaut dann aber ängstlich über ihre Schulter. In einem dunklen Hauseingang erscheint kurz eine zwergenhafte Gestalt, die auf Nicolas Roegs Don’t Look Now (GB 1973) und Cronenbergs The Brood (KAN 1979) verweist. Die Gestalt versteckt sich beim Blick der Frau sofort wieder hinter einer Mauer. Der Hund hebt sein Bein und uriniert an das Gehäuse des Fernsehgerätes. Elektrische Blitze funken und koppeln den Urinstrahl an seinen Absender zurück. Der Fernsehbildschirm flackert und das Gerät schaltet sich ein. Die Initiation des artifiziellen und medialen Grauens, die Animation des toten Fernsehobjekts, erfolgt also einerseits im traditionell alchimistischen Modus der Homunkulus-Züchtung – also durch Körperflüssigkeit wie Sperma, Tränen oder Urin, der hier noch einmal grotesk als Hundeurin profaniert wird, und rekurriert damit auf phantastische Traditionen in Folklore und Literatur. Hinzu kommt die moderne Variante der Elektrizität als lebensspendende Kraft, wie sie bestens bekannt ist aus Mary Shelleys (1818) und James Whales Frankenstein (US 1931), Thea von Harbous und Fritz Langs Metropolis (D 1926/27) und Villiers de l’Isle-Adams Roman Eva der Zukunft (1886), in dem der Glühbirnen- und Filmerfinder Thomas Alva Edison höchstpersönlich den modernen Prometheus gibt.

Der Hund stürzt sich nach dem elektrischen Schlag aggressiv bellend auf den Fernseher und kann von der alten Frau nicht mehr zurückgehalten werden. Hunde reagieren in den Texten und Filmen der Phantastik und speziell im Horrorgenre besonders sensibel auf das Übernatürliche und Teuflische. Sie nehmen es mit ihren nichtmenschlich erweiterten Sinnen wahr, wenn sich ein Portal zu einem phantastischen Raum öffnet. Es folgt ein Zoom auf den Fernsehbildschirm: Die zur Fratze deformierte Wiedergabe des Gesichts von Richard D. James alias Aphex Twin erscheint in einem Blauton. Der Mund ist zu einem konstanten Schrei geöffnet. Zu der wortlosen elektronischen Musik, die bis dahin die Tonspur des Videoclips füllt, kommt mit dem Erscheinen des Gesichts auch der Texteinsatz des Refrains: „I want your soul. I rape your soul. Come to Daddy.“ Die alte Frau flüchtet daraufhin in einen Hauseingang und fasst sich an die Brust. Kleine Kinder strömen derweil aus einem Haus- oder Hofgang. Teilweise bewaffnet mit Stangen, die unter anderem dazu benutzt werden, an Wandgestänge Lärm zu erzeugen, tragen sie alle das manisch grinsende Gesicht von Aphex Twin, dem Alter Ego und bösen Zwillingsbruder des Komponisten. Die Gruppe terrorisiert die Umgebung, wirft Müll um und verfolgt einen jungen Mann, der entsetzt in sein Auto springt und damit flüchtet. Diese Konstellation zitiert auch das Bild vom unaufhaltsamen Rudel oder Schwarm, dem man mit Ratio und Argumentation nicht mehr beikommen kann, wie er vor allem im modernen Horrorfilm auftritt: Referenzfilme wären George A. Romeros Night of the Living Dead (US 1968), John Carpenters Assault on Precinct 13 (US 1976), Philip Kaufmans Invasion of the Body Snatchers (US 1978), Cronenbergs Shivers (KAN 1975) und Rabid (KAN 1976) oder Fritz Kierschs Children of the Corn (US 1984).

Danach wird der Erzählstrang mit der alten Frau wieder aufgenommen. Diese findet das Fernsehgerät wiederum in einer Pfütze, diesmal in einer Halle, wo die Kinder es hingeschleppt haben. Der Bildschirm stülpt sich aus – ein deutliches Bildzitat aus Cronenbergs Videodrome (KAN 1982) –, um dann neben der monströsen Fernsehfratze eine neue und organische Inkarnation herauszuschälen und die Geburt eines Wesens einzuleiten, das zunächst fötal in einer flexiblen Eihaut des Fernsehers steckt, sich dann aber ablöst und als dämonische und übergroße Kreatur entpuppt. Diese steht nach Geburt und Häutung schreiend vor der alten Frau, so dass der Frau die Haare nach hinten geblasen werden. Diese Reaktion weist eine groteske, synästhetische Comic-Logik auf, in der Lautstärke visuell umgesetzt wird und verweist damit in reduzierter Weise auf die eigentliche Funktion von Videoclips und nochmal auf den noise-Aspekt des informativen Rauschens. Der Kopf von Aphex Twin, erkennbar an seiner Ähnlichkeit mit seinen diminutiven Doppelgängern, ist zunächst haarlos und hat eine graue Haut, die seiner vorstädtischen Betonumgebung gleicht. Optisch ist das Monster offensichtlich ein Geschöpf dieser urbanen Vorhölle. Es hat zudem ein Raubtiergebiss mit verlängerten Eckzähnen und länglich verzerrte Züge. In einer der letzten Einstellungen sieht man nach der vollendeten Metamorphose des Wesens eine durch Montage zusammen geschnittene zum Rhythmus zuckende und tanzende hagere Gestalt mit dem Kopf von Aphex Twin, diesmal mit langen Haaren und Bart. Das Gesicht ist mit den Köpfen der Kinder, seinen Jünger-Aposteln, identisch, die ihn umringen und die er wohlwollend und väterlich stolz betrachtet.

Die rötlich eingefärbten Funkenbilder, die anfangs die Geschichte mit schnellen Schnitten unterbrochen haben, tauchen wieder auf und führen den Videoclip zu seinem Ende. Diese Markierungen und auch das Flackern des Bildes selbst, die Bildstörung, die zu Beginn und am Ende des Clips selbstreferenziell auf die Fernseh- beziehungsweise Videomedialität des Dargestellten verweist, entsprechen neben den sprichwörtlich schnellen Schnitten typischerweise der sogenannten und vielfach kritisierten Videoclip-Ästhetik und erfüllen damit eine vergleichbare Rolle der Reflexion wie die Geburt des vorstädtischen und televisuellen Grauens selbst.

4. Horrorfilm

In Come to Daddy geschieht genau das, was nicht nur Medienpädagogen, sondern auch moderne Horrorfilme wie Videodrome, Tobe Hoopers Poltergeist (US 1982) oder Hideo Nakatas Ringu (JAP 1998) immer schon gewusst haben: Das Monster steckt im Fernsehen, dem Bildschirm, der kein Fenster zur Welt ist, sondern ein Kanal zum Jenseits oder gar ein Portal zur Hölle. Das Unheimliche am Fernsehen ist die latente Möglichkeit der magischen Überschreitung seiner medialen Grenzen durch die Übertragung seiner Inhalte, zum Beispiel dadurch, dass es Gewalt zeigt, die von den Zuschauern mimetisch nachgeahmt wird. Cronenbergs Videodrome zeigt eine solche Fernseh- und Videoformatierung von Sex und Gewalt. Gerade im Kontext des Musikfernsehens, im dem Videoclips wie Come to Daddy gezeigt werden, verschärft sich diese medienkritische Figur, da die Zielgruppe aus Kindern und Jugendlichen besteht: In einem nicht einsehbaren Raum hinter dem Fernsehgerät liegt in der Informationssenke auch die Quelle der Gewalt, die über die magischen Kanäle des Fernsehens in unsere Welt findet. Informationstheoretisch kommt deshalb mit dem Signal, der geordneten Information von Musik und Bild, subliminal auch das gefährliche Rauschen, die ungeordnete und kryptische Aufforderung zu Bewegung, Tanz, Chaos und Gewalt in die Kinder- und Jugendzimmer. Was in Videodrome noch ein unsichtbarer Tumor oder ein neues Fernsehempfangsorgan ist, ist in Come to Daddy die körperliche Transformation und Gleichschaltung aller Zuschauergesichter.

Für die Geburt des monströsen Körpers in die Welt hinein ist das Fernsehgerät zentral. Weggeworfen liegt es in einer großen, dunklen Wasserpfütze und inmitten von stereotypem Vorstadt-Ghettomüll, wie einem umgekippten Einkaufswagen, einem Farbeimer mit weißer Farbe, Tüten oder McDonalds-Bechern. In der Lesart von Boris Groys stellt die Sammlung aber durchaus eine noch nicht musealisierte und valorisierte und deswegen noch zur Sphäre des Profanen gehörende Videoinstallation dar (Groys 1999), die in dieser sub-/urbanen Wüste des Realen als Abjekt der Stadt im Sinne Julia Kristevas inszeniert (Kristeva 1982) und zugleich ihr Ursprung, ihre Quelle, ist. Denn der Ursprung des betongrauen Monsters in die Vorstadt folgt einer Logik der Supplementarität, in der das Monster im Medium Fernsehen sitzt, aus dem Fernsehen geboren wird und dann dennoch, wie es die Shannonsche Definition von Information besagt, im Fernsehen verbleibt. Nach der Geburt existiert die schreiende Fratze weiter im erleuchteten Raum des televisuellen Profanen. Diese Multiplizierung der Monster, die streng informationstheoretisch funktioniert, findet ihre exakte Entsprechung in der göttlichen Trinität des christlichen Glaubens. So muss Come to Daddy auch als groteske Blasphemie oder Dämonisierung der paradoxen Figuren von Dreieinigkeit und Transsubstantation verstanden werden. Der teuflische „Daddy“ hält sich weiter im Tabernakel oder im erleuchteten „Heilig-Geist-Raum“ des Fernsehens auf und bringt als reine Parthenogenese den Antichristen zur Welt, der sofort von seinen minderjährigen Jüngern, denen die Gewaltbotschaft des Fernsehens schon am Gesicht anzusehen ist, umringt wird. In der Filmtrinität von Roman Polanskis Rosemary’s Baby (US 1968), William Friedkins The Exorcist (US 1974) und Richard Donners The Omen (US 1976) ist diese Konstellation schon vorgedacht: Die Kinder sind die modernen Träger der bösen Saat des Musikfernsehens.

Zusammengefasst kann man an dieser phantastischen und teuflischen Mediengeburt – der Fernseher benötigt nicht einmal mehr den Anschluss an das Stromnetz – die dämonische Herkunft des sub-/urbanen Terrors im Träger- und Transmissionsmedium Fernsehen ablesen. Kinder mutieren zu chaotischen und gewalttätigen Medienzombies, wenn sie sich den Videoclips des Musikfernsehens aussetzen. Der informationstheoretische Aspekt des Medienbegriffs muss nach Come to Daddy, der die Albträume der Medienkritik verkörpert, deshalb um spiritistische und okkulte Facetten erweitert werden. Die Gewalt in den Vorstädten und der Terror der Kinder beruhen – wie es jeder Pädagoge oder Medienkritiker eines Formats von Neil Postman bestätigen kann – auf dem Fernsehkonsum. Das Fernsehgerät ist in Come to Daddy auch tatsächlich der Fetisch, das Objekt kultischer Verehrung der Kinder, der Ursprung ihrer identischen Gesichter und vermutlich auch ihres Vandalismus. Vergleichbar dem Schweinekopf, der Titel gebenden Inkarnation des Bösen in William Goldings Lord of the Flies (1954), der auch der Lord of the Lies ist, der lügende und leuchtende Schein des diabolischen Fernsehens, ist er zentral für den walpurgischen Hexentanz, der von den Kindern aufgeführt wird. Die Kinder tragen den Fernseher mit sich, die Fratze im Fernsehen schreit unbeirrt weiter. Identität und Subjektivität, in dem Clip emphatisch als Essenz mit einem metaphysisch-religiösen Begriff gekennzeichnet – „I want your soul“ – werden von der Televisions-Technologie transformiert und gleichgeschaltet. In der profanen Erleuchtung vor dem Fernsehaltar sind und werden alle gleich monströs. So überwindet das Medienmonster beispielsweise mühelos auch Geschlechtergrenzen. Kleine Mädchen haben nur noch Aphex Twin, also das Musikfernsehen, im und als Kopf.*

5. Figura cryptica

Die Bildzitate schließen Come to Daddy deutlich an die ikonographische Geschichte des Horrorfilms an und verweisen neben den Filmen, in denen der Horror direkt dem Fernsehgerät entsteigt, auf das Genre des Teufelsfilms, das sich seit 1967 von den Hexen weg und zu der Figur des minderjährigen Antichristen hinbewegt. (Faulstich 1987) Der Videoclip schließt überdies deutlich an einen Mediengewaltdiskurs an, der vor allem das Sprechen über Kinder und Jugendliche steuert und deutliche Orte des Bösen im Fernsehprogramm ausmacht. Die alte Frau im Video unternimmt somit eine mehrfach codierte Reise durch gewalt- und das heißt: medienbesetzte Räume der Vorstadt als mythische Höllenvision. Der Hund als Begleiter ist der psychopompos, der Seelenbegleiter, der ihre Seele über die Ufer der Lethe in das Niemandsland begleitet. Er könnte aber auch ein später Nachfahre von Toto sein, dem treuen Begleiter von Dorothy durch das Zauberhafte Land, dem paradigmatischen filmischen Archiv und Urtext der Americana, der Verfilmung von Frank L. Baums politökonomischem Roman Wizard of Oz durch Victor Fleming (US 1939): „Toto, I have the feeling, this ain’t Kansas anymore!“ Die bukolischen Visionen von einer heilen Kinderwelt der Vorstädte ohne Fernseher sind vorbei. Der betongraue Alltag der Gegenwart hat sie eingeholt. Dorothy wäre in dieser Lesart allerdings ziemlich in die Jahre gekommen, und die medialen Illusionen des Zauberers von Oz, die am Ende des Weges als betrügerische aber effektive Placebos enttarnt werden, sind dann endgültig die Illusionen des Fernsehens und damit die simulierte Hyperrealität der Medien selbst.

In diesem Sinne offenbart sich Come to Daddy vergleichbar den Filmen Cronenbergs definitorisch nicht als Riss oder Einbruch einer unbestimmten phantastischen Ordnung in die Alltagslogik (Caillois 1974), sondern die Figuration der Geburt des Fernsehmonsters und seiner minderjährigen Anhänger entspringt dem verteufelndem und epidemisierenden „Medien und Gewalt“-Diskurs selbst. Boris Groys erhebt diesen Verdacht gegenüber einem medialen Tiefenraum des Submedialen, dem das Monster in Come to Daddy entsteigt, geradezu zum Prinzip der Medien. (Groys 2000) Er definiert den Verdacht als Riss im Raum-Zeit-Kontinuum, den der phantastische und unendliche Raum hinter der Oberfläche der Medien hervorruft, als Effekt eines rekursiven Verweisungszusammenhangs von Repräsentationen: „Der Effekt der Unendlichkeit ist ein durch und durch künstlicher Effekt, der durch die Repräsentation des Äußeren im Inneren erzeugt wird. Weder das Äußere noch das Innere sind als solche unendlich. Allein durch die Repräsentation des Äußeren im Inneren wird der Traum von Unendlichkeit erzeugt – und allein dieser Traum ist wirklich unendlich.“ (Groys 2000: 13) In diesem Sinne kann das Monster von Come to Daddy als eine kinematographisch fleischgewordene figura cryptica gelten (Haverkamp 2002), die auf monströse Weise den latenten Figurationen von Informations- und Medientheorie einerseits und von Mediengewaltkritik andererseits auf paranoische Weise in der monströsen Bildwelt des modernen Horrorfilms zur Evidenz verhilft.

Anmerkungen:

  • Window Licker unternimmt eine Dekonstruktion des R&B- und Hip Hop-Videoclips, indem er die Stereotypen dieser Clips aufnimmt, hyperbolisiert und ins Deformative verzerrt. Das Geschehen wird den eingeführten afroamerikanischen Helden des Clips durch das Eindringen von Aphex Twin aus der Hand genommen, und die Objekte des Begehrens, die Frauen, die zum Rhythmus der Cliphelden tanzen müssen, wenden sich dem weißen, schmächtigen, manisch grinsenden, aber virtuos Tanzenden zu und nehmen mit der Gesichtsangleichung die Identität von Aphex Twin an.

Literatur:

  • Aphex Twin: Acid Disfigurements. Teil Eins. Interview von Markus Hablizel. In: Spex. Das Magazin für Popkultur 263. 2003. H. 3: 77.
  • Caillois, Roger: Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction. In: Rein A. Zondergeld (Hg.): Phaïcon 1. Almanach der phantastischen Literatur. Frankfurt am Main 1974: 44-83.
  • Derrida, Jacques: The Law of Genre. In: Ders.: Acts of Literature. Hg. von Derek Attridge. New York/London 1992: 221-252.
  • Dubost, Jean-Pierre: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Bildstörung. Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung. Leipzig 1994: 9-13.
  • Düllo, Thomas: Coole Körpermaschinen, hysterisierte Räume. Maskierte Identitätsvokabeln in neueren Musik-Clips. In: Ders./Arno Meteling/André Suhr/Carsten Winter (Hg.): Kursbuch Kulturwissenschaft. Münster 2000: 259-275.
  • Faulstich, Werner: Antichrist, Besessenheit und Satansspuk. Zur Typologie und Funktion des neueren Teufelsfilms. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Jg. 17. 1987. H. 66: Faust und Satan – multimedial: 102-117.
  • Groys, Boris: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Frankfurt am Main 1999.
  • Groys, Boris: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien. München 2000a.
  • Haverkamp, Anselm: Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz. Frankfurt am Main 2002.
  • Liebrand, Claudia/Irmela Schneider (Hg.): Medien in Medien. Köln 2002.
  • Kristeva, Julia: Powers of Horror. An Essay on Abjection. New York 1982.
  • McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Dresden/Basel 1994.
  • Poschardt, Ulf (Hg): Video – 25 Jahre Videoästhetik. Ostfildern-Ruit 2004.
  • Serres, Michel: Der Parasit. Frankfurt am Main 1987.
  • Serres, Michel: Die Legende der Engel. Frankfurt am Main/Leipzig 1995.
  • Shannon, Claude Elwood: Eine mathematische Theorie der Kommunikation. (1948) In: Ders.: Ein/Aus. Ausgewählte Schriften zur Kommunikations- und Nachrichtentechnik. Hg. von Friedrich Kittler u.a.. Berlin 2000: 7-100.

Alle Screenshots aus: „Come to Daddy“, Directors Label/PALM, (c) 2003

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