Das Disneyland als Schädelstätte

Vieles an „Micky Epic“ ist Bauruine. Zusammengesetzt aus fünf Grafikstilen, drei Erzählweisen und vielleicht sieben Spielgenres, ist das Spiel eigentlich dazu prädestiniert unter der Last seiner Einflüsse zusammenzubrechen, nicht als Produkt sondern als Idee seine Schönheit zu entfalten. Spielerisch zwischen der späten Blütezeit und der frühen Dekadenz des Plattformer-Genres in der vorletzten Konsolengeneration angesiedelt, verweist „Micky Epic“ nicht nur auf die unübersehbaren Mängel dieser Zeit, den überbordenden Bombast und die oft unproduktive Komplexität, sondern auch die Aspirationen nach Höherem scheinen durch, der Traum von einer dreidimensionalen Spielwelt in der jede Erfahrung möglich ist. Die Eroberung der dritten Dimension schien abgeschlossen, die Konsolidierung hatte noch nicht begonnen. Es gab noch keine abgesteckten Claims, nur vage Vorstellungen davon wo ein Spiel enden und das nächste anfangen sollte. Micky Maus hat es in diese Welt nicht geschafft, seine Karriere in der Welt der Videospiele war mit dem Ende der 2D-Ära beendet.

Mit der gegenwärtig einsetzten ersten Rückbesinnung des Videospiels auf alte Werte am Ende des grafischen Wettrüstens rückt nun auch wieder Micky als Videospielfigur eines goldenen Zeitalters in den Fokus der federlesenden Branche. Die Wii als erste Plattform seines neuerlichen Auftrittes könnte kaum besser gewählt sein: Handelt es sich bei der Wii doch um die Konsole, die sich dem Schritt ins neue Zeitalter der Grafik von Anfang an konsequent verweigert hat. Auch wenn sich das Fortschrittsdenken aus dem engsten Gedankenkreis des technikhörigen Videospiels nie gänzlich wird verbannen lassen, hat die Wii seiner Exklusivität als Quelle von Innovation einen entscheidenden Schlag verpasst. Micky Maus bewegt sich auf der Wii gewissermaßen durch stillgestellte Grafikverhältnisse und abgelegte Ideenwelten.

„Micky Epic“ handelt vom Erinnern. Es geht freilich nicht um den einfachen Vorgang bei welchem ein Erinnerndes sich auf das zu Erinnernde besinnt, sondern um die Etablierung einer Ununterscheidbarkeitszone, in der alles Erinnernde potentiell auch Erinnertes ist. In ein Land der vergessenen Disney-Cartoon-Figuren verschlagen, muss der Spieler als Micky Maus zu allererst seine Position zum Protagonisten bestimmen. Micky, der einzig Unvergessene im sogenannten Wasteland, erweist sich als ähnlich unauffindbar wie der entwendete Brief Poes: In seiner offenen Ausstellung als Firmenmaskottchen der Disney Company hat er jede Persönlichkeit und Selbstständigkeit verloren.

Micky Maus ist alles was man ihm zuschreibt, nur nicht eigenständig. Die zentrale Spielmechanik in Micky Epic, die Wahl zwischen Farbe oder Verdünner, ist Medium einer Persönlichkeitsbildung, die allein dem Spieler in die Hand gelegt ist. Ob man als Spieler seine Gegner und sein Umfeld verdünnt, sie also endgültig der Vergessenheit anheim gibt oder ob man alles bemalt und sich so ein wohlgesonnenes Umfeld erschafft, ist die entscheidende Frage des Spiels. Je nachdem wie man sich verhält verändert sich die Welt in der man sich bewegt und jede Entscheidung öffnet bestimmte Wege und verstellt andere. „Playstyle matters!“ hat der Gamedesigner Warren Spector auf Schilder schreiben lassen, die im gesamten Büro seiner 2007 von Disney aufgekauften Firma Junction Point Studios verteilt wurden. Geschärft hat er diese Philosophie bereits an Spielen wie „Ultima“, „Thief“ und „Deus Ex“, voll aufblühen kann sie jetzt im Umgang mit dem totgesagten Disney-Kosmos. Im Kern besagt Spectors poetologischer Ausruf, dass sich das Ergebnis eines Vorgangs nie vollständig von diesem scheiden lässt. Wo immer Micky in die ihn umgebende Spielwelt eingreift, da wandelt sie sich ihm bereits unter den Händen.

Die meisten Verhältnisse im Wasteland sind Skizze. Unfertiges und Nicht-mehr-Gebrauchtes sind die Bausteine aus denen eine Welt gebaut ist, die, am Rande der Vergessenheit, in einer Schönheit erstrahlt, die dem Neuen und Vollständigen nur für Augenblicke eignet. Der Baumeister des Wasteland ist Oswald der glückliche Hase. Diese erste vergessene Figur, einem Rechtsstreit zwischen Walt Disney und Universal zum Opfer gefallen, wird im Spiel zunächst als Antagonist in Position gebracht, dann jedoch ziemlich schnell als misstrauischer Gewährsmann gebändigt. Mit Sicherheit gab es größere Pläne das Verhältnis Mickys zu seinem großen Bruder Oswald, wie ihn Spector bezeichnet, zu gestalten, doch auch dieser unausgeführte Plan ist wieder Ausdruck einer Poetik des Unfertigen. Oswald ist der unangefochtene Herrscher des Wasteland. Er residiert auf dem Mickymüllmountain, einem ikonischen Ort voller abgelegter und vergessener Micky Maus Memorabilia. An diesem Ort voller Micky-Telefone, Brotdosen, Comics, Spiele und Insektenvernichtungsmitteldosen wird deutlich was es mit Mickys Reise auf sich hat: Alles im Wasteland strahlt auf die Maus als Zentrum eines im verschwinden begriffenen Kosmos zurück. Oswald der Hase tritt Micky nicht als Bruder sondern als erste Entäußerung seiner selbst entgegen.

Als letzte Inkarnation Mickys tritt das Verdünner-Phantom auf, ein Geist der zukünftigen Weihnacht. Im Vorspann des Spiels tritt Mickey durch einen Spiegel in die Werkstatt des aus Fantasia bekannten Zauberers Yen Sid (Ananym zu Disney) und findet dort ein Modell des Wasteland. Neben dem Modell stehen Farbe und Verdünner. Micky versucht sich nun daran etwas ins Wasteland zu malen, aus dem formlosen Haufen Farbe wird für einen kurzen Moment die Silhouette einer Maus, die jedoch vergeht und einem monströsen Geist weicht. Schließlich überschüttet Micky das Wesen mit Verdünner und stopft alles in eine Schüssel, die zuletzt mitsamt Verdünner und Phantom ins Wasteland fällt. Dieses Ereignis wird von den Bewohnern des Wasteland als die Verdünner-Katastrophe bezeichnet, damit ist ins Land des Vergessenen die Geschichte eingezogen.

Tatsächlich haben die Figuren im Wasteland als bereits Vergangene mehr historisches Bewusstsein als Micky Maus, der, von seinem ewigen Fortbestehen ausgehend, von allem was nicht seine Gegenwärtigkeit beeinfluss unbeeindruckt bleibt. Das Wasteland als Schädelstätte gleicht einem fortwährenden memento mori an Mickys Andresse. Umgebung und Figuren sind zusammengestoppelt aus über achtzig Jahren Animationsgeschichte, die Kontinuität und Heterogenität zugleich herstellen. Alles im Wasteland ist Hinweis auf die ausladenden Archive der Walt Disney Company in Los Angeles, California, Emblem der reichhaltigen Konzerngeschichte und ungebrauchtes Versatzstück im Aktenschrank.

Micky steht zwischen Oswald, seinem an ökonomischen Verwerfungen gescheiterten Vorvater und dem Verdünner-Phantom, dem gescheiterten Selbstbildnis, als unbestimmtes Drittes. Oswald als erster Vergessener und Erbauer des Wasteland steht für die produktiven, scharf umrissenen Züge von Micky Maus. Das Schatten-Phantom dagegen als wüste Mischung aus Farbe und Verdünner, getrieben vom Vernichtungswillen eines Ungewollten, bezeichnet die Seite Mickys, die man, vielleicht nicht ganz zu unrecht, dem gegenwärtigen Disney-Konzern zuspricht: Wo einst Kreativität war, ist nun der große Fusionscoup. Sei es Pixar oder Marvel, Disney steht mittlerweile für einen Erfolgt, der dazu in der Lage ist sich seine Konkurrenz mit Macht vom Hals zu schaffen oder sie sich schlicht einzuverleiben. In diesem Kontext kann man die Rückbesinnung auf alte Werte und eigene Figuren vielleicht als Seelenrettungsversuch betrachten. Bei diesem Versuch gibt es nichts, was außerhalb der Polarität von Destruktion und Rettung steht.

Auf dem zentralen Dorfplatz des Wasteland, der so genannten Mean-Street, steht als erstes Gebäude ein leeres Museum. Spricht man die Museumswärterin an, versichert sie das eigentliche Museum sei das Wasteland selber. Entsprechend geht es in Micky Epic um das Sammeln von allen möglichen Dingen. Gliedmaßen von Roboterkopien von Goofy, Daisy und Donald, Filmrollen alter Disney-Cartoons, Artwork zum Spiel selber und vor allem Erfahrungen. Diese sind im Spiel verkörpert durch Anstecknadeln. Die Pointe des Spiels und Seitenhieb gegen die Moralitätskonzepte anderer moderner Spiele ist, dass man alle Anstecknadeln erst dann sammeln kann, wenn man jede erdenkliche Verhaltensweise im Zuge mehrerer Spieldurchläufe erprobt hat. Heldenhaftes Verhalten steht unvermittelt neben Tollpatschigkeit oder schlichtem Vernichtungswillen, denn alle diese Charakterzüge liegen irgendwo verstreut im Wesen von Micky Maus, wie Comics und Videospiele auf dem Mickymüllmountain.

Mit jedem Durchgang ist man aufgefordert die einmal gewählte Lösung zu verwerfen und stattdessen eine andere auszuprobieren. Auf diese Weis schraubt sich durch das scheinbar starre Wasteland ein spielerisches Korrektiv, das sich in unterschiedlichen Erfahrungen gruppieren kann. Aus der leeren Figur Micky Maus wird so Schritt für Schritt, mit jeder Handlung und mit jedem Durchspielen, ein übervolles Gegenstück, reine Potentialität im positiven Sinne. Erst in der doppelten Bezugnahme zum Protagonisten Micky Maus einerseits und der daraus folgenden Entscheidung für ein bestimmtes, mit Alternativen versehenes, Handlungsschema hört die Erinnerung auf einfaches Archivieren zu sein und geht in Rettung über, die ein lebendiges Bild von der Vergangenheit erstehen lässt.

Disney Micky Epic
(USA, Disney Interactive Studios 2010)
Verfügbar für Nintendo Wii
Freigegeben ab 6 Jahren
Preis: 39,92 Euro

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Dan Gorenstein

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