A Paler Shade of White

Was hätte das für ein Film werden können! Die Geschichte des „Dancing Outlaw“ Jesco White, der in den Backwoods der Appalachen als Sohn eines gefeierten „Mountain Dancers“ in einer von Schmutz, Armut, Gewalt und selbst hergestellten Drogen (der Titel des Films verweist auf selbstgebrannten Schnaps) geprägten Umwelt aufwächst und die eigenen Dämonen mit der vom Vater erlernten Kunst des Tanzens bekämpft, bietet mehr als genug Material für eine faszinierende Außenseiterbiografie. Leider jedoch verrät „White Lightnin‘“, das Spielfilmdebüt des britischen Regisseurs Dominic Murphy, dem Zuschauer nur wenig über die inneren Konflikte und Ängste seines Protagonisten, seine Motivation, sein Verlangen, die Kultur der Backwoods und die Bedeutung des „Mountain Dance“ – einer volkstümlichen Spielart des Stepptanzes – für sein Seelenheil, dafür aber viel über die filmischen Schablonen, in die auch solche Menschen gepresst werden, deren Unangepasstheit, Unbezähmbarkeit und Wildheit doch eigentlich betont werden sollen.

Jesco White (Edward Hogg) kommt 1956 zur Welt und entdeckt in der tristen Umwelt bald schon die Freuden des Benzinschnüffelns. Er landet zum ersten Mal in einer Erziehungsanstalt, aus der sein Vater D-Ray White (Muse Watson) ihn wieder herausholt, als er dort misshandelt wird. Um seinem Leben Inhalt zu geben, lehrt er Jesco den Mountain Dance, doch auch der lenkt ihn immer nur kurzzeitig von den Drogen ab: Seine Jugend ist ein stetiges Hin und Her zwischen seinem Zuhause und der Erziehungsanstalt. Nach dem gewaltsamen Tod seines Vaters beschließt er, in dessen Fußstapfen zu treten und macht sich bei zahlreichen Auftritten einen Namen als Mountain Dancer. Die Ehe mit der mehr als 20 Jahre älteren Cilla (Carrie Fisher) scheitert an seinen immer wiederkehrenden Gewaltausbrüchen, die endgültig eskalieren, als er die Mörder seines Vaters ausfindig macht, um dessen Tod zu rächen.

Murphy lässt Jesco seine Geschichte selbst per Voice-over erzählen und es verrät viel über den Film, dass sein schwerer southern drawl mehr zur Schaffung von Atmosphäre und der Konturierung des doch so wichtigen Lokalkolorits beiträgt als die Bilder. Die visuelle Gestaltung von „White Lightnin‘“ ist sein größtes Manko und an ihr lässt sich die Kurzsichtigkeit und Unbeholfenheit von Murphys Inszenierung gut darlegen. Im breiten Scope-Format, das Murphy nie zu füllen weiß, ist der ganze Film bis auf eine kurze Szene in ein aschfahles, nebliges und kontrastarmes Beinahe-Schwarzweiß gehüllt, das erst bei genauem Hinschauen schwache Farbreste offenbart, die kaum mehr als eine verblassende Erinnerung sind. Und wenn diese Farbdramaturgie auch halbwegs gut dazu geeignet sein mag, Jescos eigene von Drogen vernebelte Erinnerung abzubilden sowie die soziale Tristesse seiner Heimat einzufangen, so überzieht sie doch auch die Momente, in denen Leben und Hoffnung durch den Film pulsieren, mit dem Dreck, der alles ununterscheidbar macht. Die urwüchsige Kulisse der Appalachen, die sich doch unüberhörbar in die wildromantische Hillbilly-Musik eingegraben hat, der zähe Schlamm, der ihren Boden bedeckt, die undurchdringlichen Wälder, die sich dem Himmel entgegenstrecken: Sie alle sind absolute Non-Entitäten in den Bildkompositionen des Films, der sich damit selbst enttarnt.

Murphy hat keine Idee, was er eigentlich erzählen will, was seinen Protagonisten im Innersten treibt, er findet nichts Positives in seiner Kunst, nichts Schönes, Bewahrenswertes in seiner Welt. Er weiß nichts aus Jescos Außenseiterbiografie zu machen, nichts mit der buchstäblich vergessenen Gesellschaft im Hinterland USA anzufangen, nichts darüber zu erzählen, wie Tanz und Musik als Therapie gegen den eigenen Wahnsinn eingesetzt werden, wie Begeisterung und Leidenschaft zumindest kurzzeitig beim Vergessen helfen. Es gibt nichts, was er dem Zuschauer mitgeben würde, außer dass es ziemlich kaputte Gegenden mit ziemlich kaputten Typen gibt. Und Murphy steht mit offenem Mund daneben, fasziniert von so viel Elend, und hält die Kamera drauf. Die Sympathie für seine Hauptfigur macht somit schnell dem Sensationalismus und einem Handlungsablauf Platz, dem jede dichterische Vision entzogen ist: Jescos Geschichte unterscheidet sich nicht von der zahlreicher anderer Verlierer, die sich als Opfer der Gesellschaft wähnen und das doch nur als Entschuldigung dafür begreifen, sich selbst und andere zu zerstören. Die obligatorischen Jesus-Vergleiche, die der Name „Jesco White“ fast schon allein heraufbeschwört, verdeutlichen nur die Orientierungslosigkeit Murphys, sonst erhellen sie nichts.

Dabei gibt es sie doch, die raren Momente, in denen durchschimmert, was ein anderer Regisseur aus „White Lightnin‘“ vielleicht gemacht hätte: Jesco als Kind, vor der dunklen Waldkulisse auf einer Pappmatte ganz in sich verloren die vom Vater gelernten Tanzschritte übend; das ausgelassene Beisammensein der Appalachenbewohner, ein seltener Moment des Aufgehens im Hier und Jetzt, der Zufriedenheit, des Glücks; Jesco, der nach dem Tod des Vaters von der Mutter dessen Tanzschuhe entgegennimmt und sie mit zitternden Händen betrachtet als seien sie ein funkelnder Diamant; Jesco bei den Proben mit dem alten Gitarristen seines Vaters, der ihm erklärt, welcher Tanzschritt auf welchen Part des Songs passt; schließlich der Auftritt seiner Gattin Cilla, die er auf die Bühne ruft, damit sie ein Lied singt, und ihre fragile, aber melodiöse Stimme eine heilige Verbindung mit der traurigen Countrymelodie eingeht. Was aber statt dieser Momente von „White Lightnin'“ in Erinnerung bleibt, ist Jescos grausame Rache an einem der Mörder seines Vaters, den er zerschlitzt, mit Hühnerkot einreibt und dann in einer madenverseuchten Schlammgrube im Wald ersäuft, gehüllt in die matschige Optik einer zigfach kopierten Videokassette – der bereits erwähnte einzige echte Farbmoment. Eine bessere Vorlage, diese Szene als treffendes Bild für seinen Umgang mit einer historischen Figur und seine eindimensionale Inszenierung zu interpretieren, hätte Murphy kaum geben können.

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White Lightnin‘
(Großbritannien 2009)
Regie: Dominic White; Drehbuch: Eddy Moretti, Shane Smith; Kamera: Tim Maurice-Jones; Schnitt: Sam Sneade
Darsteller: Edward Hogg, Carrie Fisher, Muse Watson, Owen Campbell, Stephanie Asatlos-Jones
Länge: 88 Minuten
Verleih: I-On New Media

Zur DVD von I-On New Media

Mit „White Lightnin'“ startete I-On New Media die sehr empfehlenswerte „Edition Störkanal“, in der bis heute außergewöhnliche, zwischen den durchgesessenen Genrestühlen sitzende Filme aus dem Independent-Bereich veröffentlicht werden. Wie alle Filme der Reihe kommt auch „White Lightnin'“ als Digipack mit eingeklebtem Booklet, leider aber keinen erwähnenswerten Extras.

Zur technischen Ausstattung:

Bild: 2,35:1 (16:9/anamorph)
Ton: Deutsch, Englisch (Dolby Digital 5.1)
Untertitel: Deutsch
Extras: Trailer
Freigabe: FSK 18
Preis: 16,99 Euro

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