Den Zuschauern beim Zuschauen zuschauen

Im wundervollen Kurzfilm „Plastic Bag“ zeigt Ramin Bahrani mit Hilfe des Erzählers Werner Herzog die Welt aus der Sicht einer Plastiktüte. Dieser Ansatz erweist sich nicht nur als amüsant und klug beobachtet, sondern auch als anrührend. Quentin Dupieux, vor allem als Elektro-Musiker ‚Mr. Oizo‘ bekannt, richtet in seiner Horrorparodie „Rubber“ die Kamera einige Momente lang auf eine Reifenverbrennungs-anlage. Zu sehen wie die Gummiräder auf dem umzäunten Gelände zusammengepfercht und in Massen vernichtet werden, ist ein erschütterndes Erlebnis für Robert den Killerreifen. Ja, richtig gelesen: Killerreifen. Dupieux‘ Star hat indes weniger mit den ernstgemeinten Killervulkanen oder -bienen der B-Moviegeschichte zu tun, sondern ist am ehesten mit den hochgradig absurden Killertomaten verwandt. „Rubber“ begnügt sich jedoch nicht mit dem satirischen Konzept eines Killerreifens, sondern entwickelt sich nebenbei noch zum Meta-Film, der die Rolle des Kinopublikums ironisch dekonstruiert.

Schon die ersten Minuten reißen die vierte Wand nieder und zerstören jene Illusion, jene Suspendierung des Realitätssinns, auf die Filme gemeinhin angewiesen sind. Polizei-Lieutenant Chad (Stephen Spinella) spricht direkt in die Kamera und fragt das Publikum, warum Spielbergs Alien ‚ET‘ ausgerechnet braun gewesen sei oder warum die Hauptfiguren des „Texas Chainsaw Massacre“ nie ins Bad gingen, wie es doch normale Menschen täten. Mit einem nihilistischen „No Reason“ beantwortet er letztlich seine eigene Frage und weist darauf hin, dass sowohl reales Leben als auch filmische Erzählungen voller Willkür und Zufall seien. Erst dann bemerkt der Zuschauer, dass Chad sich doch nicht an das Kino-Publikum gewandt hatte, sondern an eine Gruppe Menschen, die an der Stelle der Kamera – jenem innerfilmischen Äquivalent des äußeren Betrachters – gestanden hatte.

Die Zuschauer im Film (nennen wir sie zur besseren Unter-scheidung „Wüstenzuschauer“, da „Rubber“ in einer Wüste spielt) sind aus dem selben Grund da wie die Zuschauer im Kinosaal: Sie wollen den Killerreifen sehen. Das Kino-Publikum starrt das Wüstenpublikum beim Anstarren der Handlung an und spiegelt sich in dessen Rolle. Als der erste Genre-Fan unruhig werden mag, weil nach knapp zehn Minuten immer noch kein Blut vergossen wurde, beschwert sich prompt einer der Zuschauer im Film: „Das ist langweilig!“ Sein Vater vertröstet ihn – „Das wird schon besser werden.“ – und filmt das Geschehen mit einer Kamera bis ihn eine Frau drauf hinweist, dass dies illegal, weil Piraterie sie. All das kennt man von eigenen Kinobesuchen – ebenso die zeitgleich auftretenden Zuschauer, die alles kommentieren, oder die mal kichernden und mal nörgelnden Teenie-Mädchen, die einem schon manchen Film verdorben haben.

Was sehen jene Zuschauer in der Wüste? Einen Reifen, der sich langsam aus dem Sand aufrafft, sich in Bewegung setzt, unbeholfen umfällt, wieder aufsteht und sich schließlich erschöpft schlafen legt. Später wird er Fernsehen schauen (Motorsport natürlich, wegen der vielen Artgenossen), sich in einen Menschen verlieben und eine große Freude an Zerstörung und Mord entwickeln. Die menschliche Vernichtung seiner Reifenbrüder und -schwestern rächt Robert mit telekinetischen Fähigkeiten. Seine äußeren Gummischichten beginnen plötzlich zu flattern bis der Kopf eines in der Nähe befindlichen Menschen explodiert und Blut und Hirnmasse durch die Luft schleudern. Einmal bespannt Robert eine Frau heimlich beim Duschen, die Wüsten-Zuschauer schauen ihm beim Zuschauen zu. Der Kino-Zuschauer sieht den Wüstenzuschauern zu, wie sie dem Reifen beim Anschauen der Duschenden zuschauen …

Angetan von der schönen Nackten, richtet Robert sich im selben Motel ein, während Dupieux sich ein Zitat aus „Psycho“ gestattet. Die vom Veranstalter des Wüstenkinos ausgehungerten Zuschauer werden derweil mit einem Truthahn vergiftet, was den Film zu seinem selbstreflexiven, mediensatirischen Höhepunkt führt. Mitten in einer Szene tritt Chad out of character, informiert seinen Gesprächspartner, dass alle Zuschauer tot seien und der Film daher umgehend abgebrochen werden könne. Seine Polizeikollegen fordert er auf, nach Hause zu gehen, alles – die Leichen, die Uniformen, die Pistolen – seien Fake, profilmische Realität also. Wenn Chad den Film im Film anhält, während der tatsächliche Film weiter läuft, erinnert dieser Verfremdungseffekt an die Fernbedienungsszene aus Michael Hanekes „Funny Games“. „Rubber“ zerstört hier explizit jene Voraussetzung, die jeder Film benötigt, um seine Zuschauer emotional zu integrieren: Die temporäre Hinnahme der Filmwelt als vermeintliche Realität.

Ebenso plötzlich wie diese Vollbremmsung geschah, nimmt der Reifen-Film schließlich wieder Fahrt auf. Als Chad bemerkt, dass ein Zuschauer – quasi der Vertreter des Kino-Publikums – doch überlebt hat, setzt er einfach an der selben Stelle wieder ein, an der er mehrere Minuten zuvor die Handlung unterbrochen hatte. Sein Textblatt hervor holend, liest er seine nächsten Zeilen monoton vor und macht sich wieder auf die Jagd nach dem Killerreifen. Was nicht etwa bedeutet, dass „Rubber“ sein Spiel mit den verschiedenen Zuschauer-Ebenen aufgibt: Statt zu zeigen, wie der Reifen vor der Polizei flieht, lässt Dupieux den einzigen überlebenden Zuschauer den Handlungsverlauf nacherzählen. „Eine ziemlich spannende Szene“, fasst der zusammen, während das Kino-Publikum das genaue Gegenteil erlebt, weil ihm nur der redende, in die Ferne blickende Mann gezeigt wird. Jener Mann (Wings Hauser) hat ein besonderes Verhältnis zu Reifen, ist er doch an den Rollstuhl gefesselt – Robert will er trotzdem erledigt sehen. Nur „etwas schneller“ könne das alles gehen, nörgelt er, als die Polizei versucht, Robert mit einem Puppenimitat seiner Angebeteten und einer ihn lockenden Stimme mit französischem Akzent in die Falle zu bekommen.

Selten hat ein Film ein Genre parodiert und zugleich eine medientheoretische Sicht auf die Rolle des Filmrezipienten geliefert. Wen Dupieux als größte Gefahr für den Zuschauer ansieht, erklären die letzten Bilder, in denen eine ganze Armee aus Reifen den großen Aufstand wagt. Mit dem wunderbar trockenhumorigen „Rubber“, dessen Elektro-Soundtrack angesichts des musikalischen Hintergrunds Dupieux‘ überraschend zurückhaltend bleibt, hat der Franzose einen jener wenigen Filme geschaffen, die in ihrer symbiotischen Verbindung von Kunst und Unterhaltung, Kulturtheorie und Splatter noch die entferntesten Zielgruppen in einem Kinosaal vereinen.

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Rubber
(Frankreich 2010)
Regie: Quentin Dupieux; Drehbuch: Quentin Dupieux; Kamera: Quentin Dupieux; Schnitt: Quentin Dupieux, Kevos Van Der Meiren; Musik: Quentin Dupieux, Gaspard Augé
Darsteller: Stephen Spinella, Jack Plotnick, Wings Hauser, Roxane Mesquida
Länge: 82 Min.
Verleih: Capelight

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