Einsamer nie

Ein Junge flüstert seinem Vater den Traum der letzten Nacht ins Ohr und sie hüten ihn von nun an wie ein gemeinsames Geheimnis. Derselbe Junge assistiert seinem Vater, wenn er Bienenkörbe in schwindelerregender Höhe auf Bäumen anbringt und vergisst in diesen Momenten sein Außenseiterdasein. Doch die Bienen verschwinden und der Vater des kleinen Yusuf muss sich auf den Weg machen, ein neues Gebiet für seinen Honig zu erkunden. Plötzlich steht der ohnehin schon wortkarge und zurückhaltende Junge allein da, denn sein Vater scheint wie vom Erdboden verschluckt.

„Bal“ ist ein ruhiger Film, und zwar nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch wortwörtlich. Extradiegetischer Ton kommt nicht zum Einsatz, es gibt keinerlei Filmmusik, die die Handlung untermalt. Lediglich die Geräusche der umgebenden Natur und Menschen sind zu hören, wodurch der Film auf einige Zuschauer eventuell „zäh“ wirken kann. Da man mittlerweile so sehr daran gewöhnt ist, Film mit teilweise übertriebener tonaler Untermalung und Akzentuierung zu sehen, wirkt das Fehlen jeglichen Soundtracks fast schon verstörend. Doch die Szenerie erlaubt eigentlich auch gar keine großspurigen Effekte, denn der Film spielt in einer ländlichen Gegend und erzählt von einfachen Menschen. Wozu sollte er sich da einer aufwändigen Tonkulisse oder reißerischer Effekte bedienen?

Bilder müssen in diesem Film zwangsläufig tausend Worte sprechen: Ein Großteil der Szenen kommt ohne Dialoge aus, denn der Protagonist Yusuf ist ein schweigsamer, sozial abgerückter Junge. Er spricht so gut wie nie, und wenn er mit seinem Vater redet, dann nur flüsternd. In der Schule verbringt er seine Pausen drin am Fenster und sieht den anderen Kindern beim Spielen zu. Seine Unfähigkeit, vor der Klasse laut vorzulesen, sein Mangel an Freunden und seine Verschwiegenheit zeichnen das Bild eines introvertierten, irgendwie traurigen Kindes, das seinen Platz noch nicht so recht gefunden hat. Als sein Vater, die einzige Bezugsperson, mit der er sprechen und vor der er laut vorlesen kann ohne zu Stottern, die Familie verlässt, rückt Yusuf noch weiter weg.

„Bal“ bedient sich einer beeindruckenden Lichtgebung im Chiaroscuro-Stil, die nicht nur die Eingeschränktheit der Situation betont, sondern auch den Fokus des Zuschauers erfolgreich leitet. Wenn Yusuf mit seinen Eltern am Esstisch sitzt und nur das elektrische Licht direkt über ihnen die Szene ausleuchtet, fühlt man sich an Caravaggios Abendmahl in Emmaus oder Berufung des Matthäus erinnert. So inszeniert Regisseur Semih Kaplanoĝlu Yusufs enge Beziehung zu seinem Vater; entweder sind sie in einem dunklen Raum vom Licht eingerahmt oder man sieht aus einem dunklen Raum hinaus ins Helle, wo beide neben einander sitzen. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers wird auf das Wesentliche der Szenen gelenkt, indem alles andere in Dunkelheit untergeht.

Die letzte Sequenz des Films spielt sich größtenteils in einem finsteren Wald ohne Beleuchtung ab, man sieht manchmal nur Yusufs weißes Hemd hervor blitzen und hört ein Unwetter verkündendes Donnergrollen im Hintergrund, wodurch die verzwickte psychische Lage des  Jungen einmal mehr betont wird. „Bal“ wird vielleicht nicht als Überraschungserfolg der Berlinale gefeiert werden, ist aber auf jeden Fall eine kleine Perle unter den vielen Filmen der Festspiele.

Bal
(Türkei/Deutschland 2010)
Regie
: Semih Kaplanoĝlu; Drehbuch: Semih Kaplanoĝlu, Orçun Köksal; Kamera: Bariş Özbiçer
Darsteller: Bora Altaş, Erdal Beşikçioĝlu, Tülin Özen

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