Stadterkundungen in New York

Die Filme des afghanisch-stämmigen Amerikaners Jem Cohen tauchen einzeln immer wieder auf, sei es auf diversen Festivals oder in den Programmreihen ambitionierter Kinos. Auf den Oberhausener Kurzfilmtagen im April vergangenen Jahres war eine umfassende Retrospektive seiner Werke zu sehen.

Bekannt am ehesten noch für seine bisher fünf Musikvideos für und mit R.E.M. und der Zusammenarbeit mit der Gruppe Fugazi, war Jem Cohen angereist, dem Klischee vom “Musikvideo-auteur exeptionel” entgegenzuwirken. Schnell wurde deutlich, dass Cohen, auch wenn er Musikvideos dreht, keiner MTV-Ästhetik frönt, stattdessen Filme ganz eigener Art entstehen lässt, die sich der Kommerzialisierung gründlich widersetzen, so dass man in der präsentierten Reihe Cohens Musikvideos kaum von seinen anderen Filmen unterscheiden konnte und wohl auch nicht wollte, weil alle Filme ganz offensichtlich aus der Lust am Schauen entstanden sind, ob Auftragswerke oder nicht.

Cohens immer wiederkehrendes Thema ist die Stadt und der Blick des Fremden auf und in diese Stadt: „In New York fühle ich mich immer noch wie ein Außenseiter, und irgendwie war das immer so, dabei lebe ich schon seit 14 Jahren hier.“ Tatsächlich lassen sich Cohens Filme lesen wie die Reisebeschreibungen eines Fremden, eines Ethnologen sogar, der staunend, aber mit kritischem Blick durch das fremde Terrain geht. Cohen durchstreift die Stadt wie einen Dschungel, entdeckt sie neu, gewinnt ihr unerwartete Bedeutungen ab. Über New York sei schon alles gesagt und gezeigt worden? Von wegen: Ein eindrucksvoller Versuch den Mythos New York auf ganz subjektive Art zu fassen, ist Cohens This is a History of New York (USA 1987), in der eine Zeitspanne von prähistorischer Vorzeit, über “The Golden Age” bis zum jetzigen Zeitalter behandelt wird, aber ausschließlich bestehend aus Bildern, die Cohen im heutigen N.Y. gefunden hat, Straßen und Plätze, streunende Hunde, rauchende Industrieanlagen, hetzende Menschen, oft verfremdet durch slow motion, grobkörnig oder verzerrt und unterlegt von Ton- und Textcollagen, die diese Zeitreise spannender machen als es ein Lehrfilm über New Yorks “tatsächliche” Historie je sein könnte. Das letzte von Cohen beschriebene Zeitalter ist „The Age of Reason“, bestimmt von Schwindel erregend hohen Bürogebäuden und Männern in Anzügen, eindrücklich unterlegt vom Klang rieselnder Geldmünzen und getaucht in gleißendes Licht. In der Zeitschrift Akzente aus dem Jahr 1981 findet sich ein Satz, der, wenn Cohen ihn gekannt hätte, als Schlusswort zu diesen Bildern nicht passender hätte sein können: „Von dem einen World Trade Center auf das andere hinüberschauen und hinunter: das kann nicht bestehen bleiben, kann nicht dauern.“ (Helmut Färber, In New York) Was Cohen als Zeitalter der Vernunft ironisiert, als Höhepunkt der Geschichte New Yorks – die traurige Bilanz der Herrschaft des Geldes, die sich dem Fremden übermächtig in Wort und Bild aufdrängt -, kann der Endpunkt der Entwicklung nicht sein. Dass 20 Jahre später tatsächlich zwei der Hochhäuser ganz real im Erdboden verschwinden würden, konnte niemand ahnen und wird der „History of New York“, wie Cohen sie sieht, auch kein neues „Zeitalter“ hinzufügen. Stattdessen weist der letzte Satz nach dem Abspann: „Remember Jean Vigo“ darauf hin, dass es die durch Geldmacht und „Vernunft“ bestimmte Sicht auf die Welt und konkret auf New York ist, die nicht von Dauer sein kann.

Was man beim Schauen des ersten Films gleich vermutete, bestätigt sich nach einem Blick in die Credits: Jem Cohen arbeitet meist mit Super-8, 16 mm und/oder Video, Techniken, die er als Befreiung empfand nach ersten teuren Versuchen mit 35 mm-Kameras, wie er erklärend erzählt. Man sieht seinen Filmen an, dass da jemand allein unterwegs ist, ohne Crew und technischen Aufwand; die filmografischen Angaben fallen dementsprechend kurz aus und selbst unter “Musik:” steht oft noch der Name des Regisseurs.

Will man versuchen, Cohens Filme zu fassen, denkt man zuerst an Begriffe wie Essayfilm oder Städteporträt und liegt sicherlich nicht falsch, aber nach und nach und mit jedem neuen Bild, das sich auf der Leinwand zeigt, entdeckt man mehr. Cohen erzählt Geschichten und arbeitet doch nicht spielfilmhaft narrativ, er dokumentiert, nimmt sich aber die Freiheit Bilder und Töne zu verfremden. Immer wieder blitzen die Tauenden einer Handlung auf, die man ergreifen möchte, aber die Kamera verweigert sich der stringenten Beobachtung, schwenkt ab, stochert in Seitenstraßen und greift manchmal wie zufällig doch wieder nach dem Seil einer schon angefangenen Story.

Einer dieser wunderbar rätselhaften und sehr persönlichen Filme ist Lost Book Found (USA 1996), gewidmet Walter Benjamin, dem Großstadtflaneur, dessen Schriften Cohen sichtlich beeinflusst haben und die immer wieder in Fragmenten in seinen Filmen auftauchen. Lost Book Found ist ein fast autobiografischer Film, glaubt man Jem Cohen, wie er von seiner Zeit als Candy-Wagen-Betreiber in den Straßen New Yorks erzählt. Aber die treibende poetische Kraft dieser Erkundung der Stadt mit der Kamera ist ein rätselhaftes Notizbuch, gefüllt mit Orten, Zahlen und Namen, die der Erzähler und mit ihm die Kamera als Schlüssel zur Erkundung “einer verborgenen Stadt” verwendet. Das Buch wird zum Reiseführer für den Fremden. Ein Reiseführer allerdings, der nicht die übliche Sightseeing-Tour nahe legt und die eingeschränkte touristische Wissbegierde nicht zu befriedigen vermag, stattdessen aber dem, der neugierig ist, „eine[r] Stadt unbeachteter Geografien und aufgeschichteter Artefakte – die Relikte eines primitiven Kapitalismus und der Abfall unzähliger vergessener Erzählungen“ (Cohen), zeigt.

Cohens Filme sind nicht schön in dem Sinne, dass sie sich gut als Porträt vom Touristikbüro der jeweiligen Stadt verwenden ließen (dennoch hat er bereits zwei “Auftragsporträts” umgesetzt: Amber City, USA 1998 und Blood Orange Sky, USA/It 1999, Filme über Pisa und Catania, die absolut nach Jem Cohen und überhaupt nicht nach Werbefilm aussehen). Aber sie sind doch schöne Filme, weil sie auf den Betrachter wirken und ihn tatsächlich ergreifen, gerade unter Verzicht auf Postkartenansichten und blauen Himmel. Cohen schaut sich um, filmt Abseitiges, Abgelegenes, Verstecktes, zeigt z. B. das Innere eines Pornokinos in Catania, die im Schmutz liegenden Überreste eines Markttages, gekritzelte Worte an einem Trafokasten. Seine Filme sind die eines Menschen, der alles beigebrachte Wissen darüber, was als wertvoll und fotogen gilt, über Bord geworfen und damit die Freiheit gefunden hat, radikal subjektiv sein zu können. Dennoch filmt er fast immer ohne direkten Kommentar; Subjektivität manifestiert sich zuerst in Bildern, in einer spürbaren innerlichen Beteiligung. Etwa bei der Beobachtung des Glue Man (USA 1989), den er beim Blick aus dem Fenster entdeckte und dessen Anblick ihn beunruhigte: ein Mann der, schwankend auf der Straße stehend, aus einer Tüte Klebstoff schnüffelt. Glue Mann ist jedoch kein kurzer Dokumentarfilm, sondern ein eigenartiges Fragment subjektiver Sicht, weil Cohen dieses Bild mit der Musik der Band Fugazi intensivierte zu einer “gemeinsame[n] Dekonstruktion”, für die der Filmemacher und die Musiker zusammenarbeiteten, ohne dass die eine Kunst die andere nur illustrieren würde. Nicht selten nämlich erweist sich das Fragmentarische, Zerstückelte, sich objektiven Kriterien Verweigernde aussagekräftiger als scheinbar allumfassende Aussagen. Oder mit den Worten von Michel Leiris: „Je subjektiver ich schreibe, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit […] daß sich in meinen Texten eine Objektivität offenbart.“

Und noch eine letzte Dimension soll genannt werden, nach dem Bild und der Musik das dritte wichtige Medium in Jem Cohens Filmen: die Worte. Außer- und auch nur ganz selten innerhalb seiner Musikvideos, spricht oder singt jemand direkt in die Kamera. Aber die Sprache ist allgegenwärtig: als überall zu findende Texte – auf Schildern, Plakatwänden, Papierfetzen am Boden, Graffitis, Gekritzeltem auf Klotüren – , die die Stadt zu einem Labyrinth aus Buchstaben machen, gleich dem Notizbuch aus Lost Book Found. Und die gesprochenen Worte – die des Erzählers, der selten genug auftaucht, Zitate von Benjamin und anderen genannten und ungenannten und O-Töne aus der Weite der Stadt, massiv eingesetzt bspw. im Film Black Hole Radio (USA 1992), in dem Cohen die anonymen Anrufer eines in den späten 80ern aufgekommenen “Telefonbeichtservices” mitschnitt und zusammenstellte zu einem Film über Einsamkeit und Kommunikation in der Großstadt.

Sprache dient hier nicht der Selbstbespiegelung, der Erkundung der eigenen Befindlichkeit angesichts einer fremden Umgebung. Sie bedient sich vielmehr dessen, was schon lange da und immer noch unentdeckt ist. Sie wird zur Bildsprache, die keines erklärenden Kommentars bedarf. Dass die Stadt nicht allein nur bildgewaltig befremdet, sondern für unser Gehör eine ebenso große Herausforderung darstellt, bringt Cohen eindrucksvoll in Erinnerung, wenn er Bilder und Töne gleichberechtigt, d. h. oft unabhängig voneinander einsetzt und bewusst macht, dass Sprache und Bilder nur Teile eines polymorphen Stadttextes sind, den zu lesen Cohen uns einlädt. Derjenige, welcher Cohens Filme so offen betrachtet wie dieser filmt, wird erstaunt sein, wie wenig er bewusst wahrnimmt von dem, was unseren Sinnen in der eigenen fremden Stadt täglich begegnet.

Nadine Schmidt

Auswahl-Filmografie:

  • This is a History of New York, USA 1987, 23 min
  • 4.44 (From Her House Home), USA 1989, 4 min
  • Never Change, USA 1988, 5 min
  • Talk About The Passion, USA 1988, 4 min (Musik: R.E.M.)
  • Light Years, USA 1989, 5 min
  • Glue Man, USA 1989, 5 min
  • Black Hole Radio, USA 1992, 7 min
  • Nightswimming, USA 1993, 9 min (Musik: R.E.M.)
  • Lost Book Found, USA 1996, 37 min
  • Lucky Three, USA 1997, 11 min
  • Amber City, USA 1998, 48 min
  • Milan, Distill, USA 1998, 10 min
  • Blood Orange Sky (Scenes from Catanie, Sicily), USA/It 1999, 25 min

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