Wundfabrikation.

»Rosa, in vielen Schattierungen, dunkel in der Tiefe, hellwerdend zu den Rändern, zartkörnig, mit ungleichmäßig sich aufsammelnden Blut, offen wie ein Bergwerk obertags […] Würmer, an Stärke und Länge meinem kleinen Finger gleich, rosig aus eigenem und außerdem blutbespritzt, winden sich, im Innern der Wunde festgehalten, mit weißen Köpfchen, mit vielen Beinchen ans Licht. Armer Junge, dir ist nicht zu helfen. Ich habe deine große Wunde aufgefunden; an dieser Blume in deiner Seite gehst du zugrunde.« (Franz Kafka: Ein Landarzt)

1. Bild und Gewalt. Eine Kurzgeschichte der Wunde

Die Geschichte von Kunst und Kultur kann als eine Geschichte der Wunde betrachtet werden. Die Wunde ist die Öffnung eines geschlossenen Körpers, die sein Inneres zumeist als Folge eines Gewaltaktes ausstellt. Die Wunde markiert drei Zeitebenen. Sie ist die Spur eines ehemals heilen Körpers, dem die Wunde geschlagen wurde. Diese schließt sich dann entweder im Rahmen einer Heilsmaschinerie, verursacht den Tod oder, wie im Falle des Gralskönig Amfortas in Eschenbachs oder Wagners Parsifal oder des an einen Felsen gebundenen Prometheus, dem die Adler täglich die nachwachsende Leber herausreißen und verschlingen, sie verurteilt den Verwundeten zu einem langen Leiden, bis dieser entweder durch Heilung oder durch den Tod erlöst wird. Medien und Künste stellen die Wunde häufig in das Zentrum der Darstellung. Gerade im Rahmen eines zuweilen immer noch aktuellen Kunstbegriffs, der noch dem des 18. oder 19. Jahrhunderts geschuldet ist und von dem klassizistischen Idealbild einer Darstellung des Menschen als integrem geschlossenen homo clausus ausgeht, ist die Wunde häufig ein überdeterminiertes und übercodiertes Zeichen. Am wirkmächtigsten sind wohl immer noch die fünf Stigmata der Christus-Darstellungen am Kreuze, die, wie das Herumstochern in der Lanzenwunde des Wiederauferstandenen durch den ungläubigen Apostel Thomas (am eindrucksvollsten bei Caravaggio), der heute noch für so etwas wie eine skeptische Wissenschaft und Kritik stehen kann, noch darauf hinweisen, wie bedeutsam die Wunden für die Geschichte des Abendlandes sind.

Am deutlichsten kann man neben dem Splatterfilm, der hier zu diskutieren ist, den indexikalischen Zeichencharakter der Wunde im visuellen Paradigmenwechsel von Western zu Spätwestern sehen. Denn mit dem »Spätwestern« der 60er Jahre, dem Abgesang auf die Mythen und Idyllen des reinen Westens der mutigen Pioniere hält auch die sichtbare Wunde Einzug in das Kino. Von Bedeutung sind hier vor allem die Filme von Sam Peckinpah (The Deadly Companions, US 1961; Ride the High Country, US 1962; The Wild Bunch, US 1969; Pat Garrett and Billy the Kid, US 1973). Seit dem Spätwestern und ausgearbeitet noch deutlicher vielleicht im zeitgleichen Italo-Western von Sergio Leone, Sergio Corbucci oder Duccio Tessari sind Schusswechsel und Schusswunden nie wieder dieselben.

Zeitgleich zum Spätwestern werden in der Happening- und Performance-Kunst der 60er Jahre auch die Verwundung des Körpers und seine Inszenierung eins. So stellt zum Beispiel die Künstler-Amazone Nikki de St. Phalle nicht nur die Figur des heiligen Märtyrers St. Sebastian mit einer Dartscheibe als Kopf aus, sondern schießt auch mit einem Gewehr auf Gipstorsi und Bilder. Und aus den Bildkörpern fließt wie aus wundersamen Heiligenstatuen Blut aus den Schusswunden! Der kanadische Filmemacher David Cronenberg sorgt 1982 in Videodrome, ein Film, der in diesem Text noch einmal zu Wort kommen wird, für ein mediales Echo dieser Performance-Kunst und wiederholt die Schüsse auf einen Torso, aus dessen Wunden selbstverständlich wieder Blut fließt. Gerahmt wird der verwundete Körper allerdings nicht mehr von einem Bilderrahmen, sondern es ist selbstverständlich der Fernseher, in dem solch ein blutiges Spektakel stattfinden muss.

Selbst der mythische Ursprung der Liebe beginnt in der abendländischen Geschichte mit einem Bild der Gewalt und genauer, mit einer entscheidenden Verwundung, aus der Sigmund Freud dann »um 1900« die gesamte abendländische Kultur zu erklären vermag. Die Rede ist von der Kastration. Der Titan Kronos, römisch Saturn, ist dafür bekannt, dass er, aus Sorge vor einer Rebellion – zurecht, wenn man Freuds Kulturmodell in Totem und Tabu Glauben schenken mag, – seine Kinder auffrisst. Sein Sohn, der zukünftige olympische Göttervater Zeus-Jupiter, kommt ihm in einigen (vornehmlich in mittelalterlichen Lesarten existierenden) Mythologien allerdings zuvor und kann ihn mit einem kastrierenden Streich entthronen, genau wie Kronos-Saturn mit seiner Sichel seinen Vater Uranos vor ihm. Aus seinen herabfallenden Genitalien beziehungsweise dem Blut des kastrierten Kronos-Saturn, das in das Meer tropft, erwächst die Schaumgeborene (Anadyomene), die Liebesgöttin Aphrodite-Venus, wie man sie heute vor allem noch in der Darstellung von Botticelli kennt. Keine Liebe also ohne Gewalt. Das Thema der Verwundung oder der gewaltsamen Öffnung des Körpers ist, wie man sieht, daher auch keines, dessen sich der moderne Film zuerst angenommen hat. Schon seit den antiken Mythologien von Kastration, Zerteilung und Verschlingung, ob zwischen Kronos und Zeus, zwischen Osiris und Seth oder in Homers Epen Ilias und Odyssee – man denke in diesem Zusammenhang auch an Kleists kannibalistisches Amazonen- und Trojadrama Penthesilea – und spätestens seit den Schlachtfesten in den frühneuzeitlichen grotesken Riesenromanen François Rabelais’ um die Riesen Gargantua und Pantagruel aus dem 16. Jahrhundert muss der menschliche Körper immer mit seiner Zerschneidung und gewaltsamen Öffnung rechnen.

Der Literaturwissenschaftler Michail Bachtin rechnet die Romane Rabelais’ einer Ästhetik der Groteske zu, in der es zentral um ein gewaltförmiges »Körperdrama« geht, in dem Körper profaniert, zerteilt, geöffnet und invertiert werden, um dann wieder zusammenzuwachsen. (Bachtin 1995) Das Körperkonzept wird in einem kollektiven und kosmischen Volkskörper aufgehoben, der sich immer wieder – vorrangig im kulturellen Kontext des Karnevals – regeneriert. In diesem Konzept der Groteske, das zunächst schrecklich und komisch zugleich anmutet, verschwindet nach und nach die Komponente der Komik, und eine zunehmende »Dämpfung« des Lachens zugunsten des reinen Schreckens ist feststellbar.

Gerade zur Geburt der ästhetischen Moderne in der Literatur der Goethezeit, »um 1800«, in der zunehmend der Schöpfungsakt von Kunst und Literatur selbst zum Thema von Kunst und Literatur wird, gewinnt das Thema der »Wunde« an Bedeutung. Es stellt den Winckelmannschen Klassik-Körper in Frage und verbindet die mediale Frage nach der Abbildung oder Verschriftlichung des menschlichen Körpers mit dessen materialen Resten. Gerade in der Kleist-Forschung ist das Thema der zumeist tödlichen Verwundung – nicht zuletzt wegen Kleists blutiger Doppel-Selbstmord-Inszenierung – schon lange zentral. In seiner letzten Erzählung Der Zweikampf (1811) geht es in Fortsetzung eines Duells geradezu nur um den Wettkampf beziehungsweise um die Teleologie und Soteriologie der zugefügten Verwundungen selbst. Die Literaturwissenschaftlerin Irmela Marei Krüger-Fürhoff nimmt deshalb unter anderem von Kleist ausgehend Revisionen des klassizistischen Schönheitsideals vor und deckt auf, dass der Körper in Literatur und Ästhetik »um 1800« keinesfalls der unversehrte, harmonische und idealschön-geschlossene Körper ist, wie Winckelmann ihn an antiken Statuen beobachtet. (Krüger-Fürhoff 2001) Ganz im Gegenteil ist es immer wieder der verwundete oder verstümmelte Körper, der die Grenzen des Schicklichen oder der Repräsentation reflektieren muss. Krüger-Fürhoff findet diese Belege in medizinisch-pathologischen und juristischen Texten sowie Berichten von Schlachten und kann zeigen, dass der »versehrte Körper als zugleich ausgeschlossenes und konstitutives Moment der klassizistischen Literatur und Ästhetik fungiert«. (Krüger-Fürhoff 2001: 7)

Festzustellen bleibt, dass an der Kulturgeschichte der Wunde die Bedeutung der Sichtbarkeit von Gewalt feststellbar ist. Kein Monster, kein Opfer, keine Gewalt, ohne dass man es überdeutlich sieht. Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy stellt in seinem Aufsatz Bild und Gewalt die unverzichtbare Verbindung zwischen diesen beiden Elementen deshalb im Zeichen des Monströsen aus: »Nun vollendet sich die Gewalt, wie wir zu sehen begonnen haben, immer in einem Bild. Wenn bei einem Kraftakt die Hervorbringung von Wirkungen zählt […], so zählt für den Gewaltsamen, dass die hervorgebrachte Wirkung von der Äußerung der Gewalt nicht zu trennen ist. Der Gewaltsame will sein Zeichen auf dem, dem er Gewalt angetan hat, sehen, und die Gewalt besteht gerade darin, ein solches Zeichen zu prägen.« (Nancy 2000: 87)

Genau diese Erkenntnis und den damit vollzogenen Wechsel in der Darstellung innerhalb der Geschichte des Horrorfilms zeichnet den Splatterfilm aus! Keine Monstrosität und kein Schrecken werden mehr der Phantasie des Zuschauers überlassen. Alles wird sichtbar! Die sichtbare Wunde ist das entscheidende Merkmal des Splatterfilms, und diese neue Fabrikation von Gewalt provoziert andere Publikumsreaktionen als noch der angedeutete Horror zuvor. Der Splatterfilm kann als die pragmatische Ebene in einem strukturalistischen Koordinatensystem zwischen der innerfilmischen Dichotomie von phantastischem Illusionsfilm á la Méliès und einem realistischen Kino nach den Brüdern Lumière bis zum dokumentarischen Cinéma Vérité als das Dritte gelten, das sich in einem Entsteigen von der Leinwand um den somatischen Anteil des Kinos kümmert – häufig genug in einem Ekel und Angewidertsein eines Cinéma Vomitif.

Mark Seltzers treffende Diagnose angesichts von Krankenhaus-Serien, True Crime-Fernsehen und Serial Killer-Filmen schließt direkt an Guy Debords Diagnose von der Gesellschaft als Spektakel an: Es ist eine Wound Culture, in der wir leben, und das zentrale Spektakel unserer Gesellschaft ist die Wunde. Demzufolge sind die Helden unserer Gesellschaft die Wundfabrikanten: »What is it about modern culture that makes the type of person called the serial killer possible? The spectacle of the wounded body has, of course, always had its lurid attractions. Nor did the last century invent murder in large numbers or the sex crime. But by 1900 something strange and something new appears on the scene. The wound, for one thing, is by now no longer the mark, the stigmata, of the sacred or heroic: it is the icon, or stigma, of the everyday openness of every body. This is a culture centered on trauma (Greek for wound): a culture of the atrocity exhibition, in which people wear their damage like badges of identity, or fashion accessories. And by 1900 a new kind of person has come into being and into view, one of the superstars of our wound culture: the lust-murderer or stranger-killer or serial killer.« (Seltzer 1998: 2)

Um diesen Absatz mit zwei Beispielen aus den eingangs erwähnten Italo- und Spätwestern zu schließen: Das Genre des Westerns könnte man als die populäre Form der amerikanischen Geschichtsschreibung oder besser der Mythenbildung beschreiben. Man könnte den Western mit dem romantischen Terminus der »Mythopoetik« für den amerikanischen Westen belegen. All die Kämpfe zwischen Indianern, Siedlern und der Kavallerie, die Duelle zwischen berühmten Revolverhelden wie Jesse James, den Daltons, Billy the Kid, Wyatt Earp und Doc Holliday und vieles mehr bilden – darin durchaus vergleichbar der Bedeutung der Epen Homers (und auch ihrer Duelle, zum Beispiel zwischen Achilles und Hektor) für Europa – eine genuin amerikanische Mythologie unter dem Zeichen der Wunde aus.

Der Western muss den Übergang der USA zur Moderne und damit zur Industrialisierung nachzeichnen, will er nicht zur Gattung des Epos gerinnen. Um also zu dem wichtigen Motiv »Wunde« im Westernfilm zurückzukehren: Ihren ersten modernen Höhepunkt erreicht die Wundfabrikation in Peckinpahs The Wild Bunch, in der die Wundproduktion neuen industriell-maschinellen Standards angepasst wird. Denn da es in Wild Bunch um den Verfall der alten Westernmythen und ihre Verdrängung durch neue Techniken wie zum Beispiel die Ersetzung der Pferdekutsche durch das Auto geht, wird auch das Schießen nunmehr vom Maschinengewehr übernommen. Wundfabrikation wird zum fordistischen Fließband- und Serienprodukt. Mit dem erbeuteten Maschinengewehr können die ehemaligen amerikanischen Soldaten, die zu Räubern geworden und nach Mexiko geflohen sind, weil sie sich der restriktiven Neuen Weltordnung der Vereinigten Staaten nicht anpassen wollen, die mexikanischen Junta-Militärs zu Dutzenden niedermähen. Sogar der mehrschüssige Colt und das Repetiergewehr, das noch im Zentrum von Anthony Manns Winchester ’73 (US 1950) als unfaire Superwaffe stand, müssen der massenwundproduzierenden Feuerkraft des Maschinengewehrs weichen. Und jedem Opfer spritzt im finalen Massaker in einem filmischen Schnittgewitter deutlich das Blut aus der Schusswunde. Gleiches geschieht im europäischen Western: Denn was Django im gleichnamigen Film (IT/SPA 1966) von Corbucci zum Ende hin aus dem Sarg holt, den er ständig mit sich schleppt, ist eben auch ein Maschinengewehr, mit dem die Gegner blutig niedergemäht werden müssen. Löcher machen, also Wunden fabrizieren, ist seither die Sache von industrieller Technik und damit auch die Sache des technischen Mediums Film, der jeder anderen Kunst und jedem anderen Medium in puncto Massenvernichtungsdarstellung überlegen sein muss.

2. Nummern-Revue. Die Geburt von Porno- und Splatterfilm aus dem Musical

Linda Williams erklärt in ihrer bahnbrechenden Studie Hard Core die Entstehung der modernen Pornografie aus der visuellen Lust, die durch die wissenschaftliche Abtastung des Körpers im Rahmen der Erfindung optischer Geräte des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Genau diese Lust verlangt vom Pornofilm zunehmend eine Ästhetik, die nach dem Prinzip der maximalen Sichtbarkeit funktioniert. (Vgl. Williams 1995: 83) Es sind also Großaufnahme und Ausleuchtung bis zur Überbelichtung gefragt. In dem Kapitel »Nummer und Narration« nimmt sie zudem eine entscheidende Verquickung von Filmästhetik und -erzählweise für den pornografischen Film vor. (Vgl. Williams 1995: 165-201) Da Pornografie nicht einfach gleichbedeutend mit abgefilmtem Geschlechtsverkehr ist, wie sie an den vorhergegangenen ikonographischen Analysen von Meat und Money Shots gezeigt hat, muss Williams die filmischen Konventionen dieses Genres näher untersuchen. Diese beruhen vorrangig auf dem Zusammenhang von mehr oder weniger isolierten sexuellen Nummern zur Narration.

Williams vergleicht die scheinbaren Unterbrechungen der Narration durch die Sex-Nummern einleuchtend mit den Tanz- und Musikeinlagen in Musicals: »Tatsächlich ist der Pornofilm bis zu einem gewissen Grad eine Art Musical, bei dem die Sex-Nummer an den Platz der Musiknummer tritt.« (Williams 1995: 169f.) Selbst für die ältere Gattung des Sex-Kurzfilms soll nach Williams aber die Narration für die Nummer noch notwendig sein. So gilt für einen pornografischen Spielfilm wie auch für ein Musical: »Die Narration durchdringt die Nummern, und umgekehrt durchdringt die Nummer die Narration.« (Williams 1995: 176) Trotz Williams’ Beteuerung, dass die Nummern deswegen eben nicht die Handlung unterbrechen, sondern diese befördern, muss man dem Pornofilm eine gewisse Distanz zu der Ikonographie und vor allem zu der Narration eines konventionellen Erzählfilms ohne »Nummern« zugestehen.

Der Splatterfilm, der ebenso wie der Pornofilm als »Erregungssteigerungskunst« auf die somatischen Aspekte des Kinos abzielt – man beachte den Fachterminus des »Cinéma Vomitif« -, kann als das strukturelle Pendant des pornografischen Films betrachtet werden. Beide Genres basieren in ihren jeweiligen Feldern »Sex« und »Gewalt/Horror« zunächst auf dem Prinzip der maximalen Sichtbarkeit. Was dem pornografischen Film die Meat Shots und Come oder Money Shots sind, könnte im Splatterfilm der Wound Shot genannt werden, die Nahaufnahme der geschlagenen Wunde. Die Wunde zeigt im Gegensatz zum Pornofilm eine neue und illegitime Körperöffnung, die durch einen Akt der Gewalt geschaffen wird.

Die Grenzen zwischen Sexfilm und Splatter- oder Gorefilm sind bei vielen Filmemachern deshalb schon in den 60er Jahren fließend. Neben vielen italienischen Regisseuren oder dem Spanier Jess Franco ist es vor allem der Amerikaner H. G. Lewis, der mit seinem ersten Gorefilm Blood Feast (US 1963) den Sexfilm hinter sich lässt – aus Gründen, die Lewis schlicht mit der höheren Verkaufbarkeit von Gewalt benennt. In der Anfangsszene von Blood Feast wird noch der Suspense eines Sexfilms erzeugt: Eine Frau liegt nackt in der Badewanne. Allein das Radio im Badezimmer lenkt die Erwartungshaltung in eine Richtung, die eher dem Suspense-Format von Alfred Hitchcocks Psycho (US 1960) entspricht. Denn die Radionachrichten berichten von den Taten eines Serienmörders. Und tatsächlich schleicht sich der Mörder ins Bad, und in Nah- und Großaufnahmen werden die blutigen Zerstückelungen der nackten Frau, die der Mörder mit einem Messer durchführt, gezeigt. Danach füllt das austretende Blut die Wanne.

Diese Ästhetik oder Ikonographie der maximalen Sichtbarkeit tritt dann zunehmend in Wechselwirkung mit der Narration, der Erzählweise des Films. Der Gore- oder Splatterfilm baut um den plötzlichen Schock des maximal sichtbaren geschändeten, verletzten, gewaltsam geöffneten oder verspeisten Körpers eine Minisequenz auf. Statt diese in einen dramaturgischen Rahmen einzubinden und zum Teil einer dramatischen Steigerung zu machen, folgt die nächste Minisequenz um den nächsten blutigen Gewaltakt. Die Sequenzen wiederholen sich strukturell, die Ereignisse werden auf Serialität geschaltet. Man könnte von »Gewalt-Nummern« sprechen. Aus diesem Grund bietet sich das Sujet des Serienmörders auch besonders gut für den Splatterfilm an. Wie der Pornofilm, in dem zwischen den Geschlechtsakten einfach nichts passiert beziehungsweise, in dem »die Protagonisten des Films länger brauchen, um sich von A nach B zu begeben, als man es sehen möchte«,(Eco 1999: 124) wie Umberto Eco dies definitorisch einleuchtend für den Pornofilm festlegt, fordert der Splatterfilm zu einer Stellenlektüre der Gewaltszenen, zu einer Rezeptionshaltung des »Numbering« dieser Stellen heraus. Der Splatterfilm bedeutet somit wie der Pornofilm und das Musical eine narrative Entstellung, eine Defiguration der Erzählform des Spielfilms, dessen Spannungsbogen immer noch dem eines klassischen Dramas oder deutlicher noch dem eines realistischen Romans nachgebildet ist. (Vgl. Paech 1997)

Für die Aufzählung oder Listung dieser Splatterszenen werden verschiedene Begriffe verwendet. Die feministische Philosophin Cynthia A. Freeland übernimmt in ihrem Buch The Naked and the Undead von Williams den Begriff der »Nummern« für die Splatterszenen und klassifiziert im Rahmen einer Besprechung des »Graphic Horror« diese Szenen nach ihrem Blut und Eingeweide-Gehalt: »Numbers are sequences of heightened spectacle and emotion. They appear to be interruptions of plot – scenes that stop the action and introduce another sort of element, capitalizing on the power of the cinema to produce visual and aural spectacles of beauty and stunning power. Other genres featuring numbers include the musical, Western, gangster film, and melodrama. Number in these genres would be the musical selections with song and dance, the gunfights and shootouts, or the scenes that portray overwhelming sadness and weeping. […] The numbers in pornography are, of course, scenes depicting sexual activity. […] Much the same is true in horror. Visions of monsters and their behavior or scenes of exaggerated violence are the numbers in horror: what the audience goes to the films for and expects, what delivers the thrills they want to experience.« (Freeland 2000: 256)

Anette Kaufmann nennt diese »Nummern« in einem kritischen Sinne »Blut-Bilder«, Kunstwerke, die die Gewalt am Körper des Opfers des im Film zum Künstler stilisierten Serial Killers inszenatorisch überhöhen: »Werden dagegen die Morde als artifizielle Blut-Bilder arrangiert, die ein kreatives Potential des Serial Killers erkennen lassen, bleiben die bereits getöteten Opfer zwar marginale, oft namenlose Figuren, erhalten aber eine über den Tod hinausgehende Bedeutung. Die kunstvoll zugerichteten toten Körper existieren als verschlüsselte Datenbank, die Hinweise auf die Identität des Serial Killers enthält. Durch die Gestaltung gewinnen die Leichen den Charakter makabrer Kunstobjekte, was ihnen eine gewisse Einzigartigkeit verleiht und sie in bizarrer Irrealität erscheinen lässt.« (Kaufmann 1998: 198f.)

Der Film ist in dieser Hinsicht eine varietéhafte Nummern-Revue und entspricht einer panoptischen Ausstellung von Miniszenen oder sogar von fast statischen oder zumindest nur für einen Augenblick dynamischen Gemälden und Skulpturen des Schreckens. Die Zeit bleibt für einen kurzen Augenblick in der Narration stehen und kristallisiert zu einem anderen Medium, damit der Zuschauer wie in einem Museum, einer Gemäldegalerie, einem Kaiserpanorama oder einem Fotoalbum ein Stillleben, eine Nature Morte, betrachten kann. Ein gutes Beispiel wären die Serienmorde in David Finchers Seven (US 1995), in dem die Gewalt nie direkt als Aktion, sondern nur im Nachhinein als durchaus manieristisches Kunstwerk sichtbar wird. Wenn man nicht die kritische Haltung Kaufmanns einnehmen möchte, könnte man diese Momente deshalb durchaus mit den kunstvollen Tableaux Vivants des russischen Regisseurs Andrej Tarkowskij oder des britischen Gesamtkünstlers Peter Greenaway vergleichen.

Zusammenfassend kann man zwei Bewegungen vom Horrorfilm zum Splatterfilm feststellen, die im pornografischen Film schon präfiguriert sind oder zumindest analog verlaufen. Die erste betrifft die Mise en Scène, die man auch als Ikonographie oder Ästhetik bezeichnen kann. Sie wandelt sich zur Autopsie und häufig zu einer endoskopischen Fahrt in Großaufnahme in den menschlichen Körper hinein. Man könnte dies das Prinzip der maximalen Sichtbarkeit nennen. Die zweite Bewegung betrifft die Montage, die man auch Narration oder Handlung nennen könnte. Der Splatterfilm wird wie das Musical oder der Pornofilm zu einer Nummern-Revue. Ob man dies mit Adorno kritisch als die »Wiederholung des Immergleichen« oder innovativ mit Deleuze als »Differenz und Wiederholung« bezeichnen möchte, bleibt jedem Zuschauer selbst überlassen.

Beide Bewegungen finden schon in den 80er Jahren in der Rückführung des Splatterfilms zum phantastischen Horror einerseits und im schon erwähnten Slasher-Film andererseits ihre Höhepunkte. Denn gerade in der Inszenierung der Splatterszenen ist eine deutliche Verschiebung zu beobachten. Während die Splatterfilme der 70er Jahre diese Gewalt-Nummern vorwiegend im semidokumentarischen Stil als Authentifizierungsstrategie einsetzen und dem phantastischen Horror des Übernatürlichen den Rücken kehren, kommt in den 80ern bei einer ins Hyperreale sich steigernden Sichtbarkeit von Gewalt der verdrängte phantastische Horror zurück. Zu verdanken ist diese Übermaximierung der Sichtbarkeit von Gewalt nicht zuletzt der Veränderung in der technischen Kunstfertigkeit der Special Effects, die zunehmend von Masken und Make Up zu Animatronics und Computereffekten wechseln. Im phantastischen Splatter-Horror von Sam Raimi (Evil Dead), Clive Barker (Hellraiser) oder Peter Jackson (Bad Taste, Braindead) tritt die Darstellung von Gewalt in ein hyperbolisches und damit zuweilen groteskes und cartoonhaftes Stadium ein. Der Spektakelcharakter und die Varietät der verschiedenen Gewalt- oder Todesarten, das Konzept der »Creative Deaths«, bestimmen die Filmhandlung. Um die Aufreihung kreativer Todesarten oder allein um deren Anzahl geht es noch deutlicher in den Slasher-Filmen der 80er Jahre, wie die Fortsetzungsreihen zu John Carpenters Halloween (US 1978), Sean Cunninghams Friday the 13th (US 1980) oder Wes Cravens A Nightmare on Elm Street (US 1984) zeigen.

Dieses Prinzip wird im übrigen wieder von Peter Jackson aufgenommen, der mit seinem ersten von Hollywood produzierten Film The Frighteners (NZ/US 1996) den Zahlenwahn dieser Teen-Slasher-Filme aufs Korn nimmt, in dem sein schon hingerichteter, aber wieder auferstandener Serienmörder kein anderes Motiv für sein mordendes Fortleben aufweisen kann als allein den Zwang zur Addition. Es geht ausschließlich um den zählbaren Rekord des »Body Counts«. So erscheint auf der Stirn des nächsten Opfers immer die jeweilige Nummer im Register des Serienmörders, und die Fabrikation von Leichen findet wie im Slasher-Film der 80er Jahre alleine um der Zahl willen statt.

3. Vom Nutzen und Nachteil der Stellenlektüre für das Leben

Die entscheidende Frage angesichts dieser Verschiebungen in Ästhetik und Narration, die den Splatterfilm vom traditionellen Erzählkino, zu dem auch der Horrorfilm zählt, unterscheiden, wäre die, ob sich auch eine Verschiebung in der Rezeptionshaltung zumindest in Einzel- oder Extremfällen feststellen lässt. Gerade die Frage nach der extremen Aufnahme von Bildern der Gewalt scheint auch gegenwärtig wieder hoch im Kurs zu stehen. An dieser Stelle soll deshalb einer Vermutung nachgegangen werden, die sich auf die strukturelle Ähnlichkeit des Splatterfilms zum pornografischen Film, aber mehr noch auf den medialen Wandel, den exakt diese beiden Genres vollzogen haben, bezieht. Denn der Porno- genau wie der Splatterfilm sind die Genres, die nicht mehr im Kino, sondern fast ausschließlich zuhause mit Hilfe des Videorecorders angeschaut werden.

Die These ist die, dass mit dem Eintritt des Splatterfilms in die Filmgeschichte eine neue Kategorie der Filmbeobachtung und -bewertung entsteht, die sich exakt den beiden erwähnten Neuerungen, der maximalen Sichtbarkeit exponierter Gewaltszenen und der sich wiederholenden nummernhaften Erzählweise dieser Szenen, anpasst. Diese Rezeptionsweise bestünde quantitativ im Abzählen der Splatterszenen, der Gewalt-Nummern, und qualitativ in der Einschätzung und Bewertung der Glaubhaftigkeit oder auch der hyperrealen Exzessivität dieser Szenen sichtbarer Gewalt. Noch mehr als Walter Benjamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz die Kino-Schauspieler vor einem »Gremium an Fachleuten« und einem testenden und examinatorischen Publikum, einem »Apparat« genau wie die Filmkamera selbst, auflaufen lässt, (Benjamin 1996: 327f.) geraten diese Gewalt-Nummern auf dem heimischen Videorecorder zu einem Schaulaufen oder einem Wettbewerb in puncto Quantität und Qualität der dargestellten Gewalt.

Genau diese Veränderung des Sehverhaltens kann in den höchst reflexiven Splatter- und Slasher-Filmen selbst beobachtet werden. Denn was passiert in einer zentralen Szene in John McNaughtons Henry: Portrait of a Serial Killer (US 1986)? Der Serienmörder Henry und sein neuer Kompagnon Otis kommen gerade von der brutalen Ermordung einer dreiköpfigen Familie, in deren Wohnung sie eingebrochen sind, zurück. Sie haben alles mit einer tragbaren Videokamera aufgenommen. Zuhause angekommen schauen sie sich das Heimvideo mit den Morden an. Plötzlich stoppt Otis, der die Fernbedienung in der Hand hält, die Szene. »Otis, was tust du da?«, fragt Henry, der neben Otis auf dem Sofa sitzt. Otis antwortet, »Ich will’s mir noch mal anschauen«, und schaut sich die Szene noch einmal in Zeitlupe an. Etwas Vergleichbares geschieht in der zentralen Szene von Wes Cravens Scream (US 1996): Die Teenager schauen sich in einem Wohnzimmer in und um ein Sofa herum den Slasher-Film Halloween an und spulen wie selbstverständlich zu den Mordszenen, während der »Experte«, ein Verkäufer aus einer Videothek, die anderen über den Regelsatz des Genres aufklärt und zugleich hinter ihrem Rücken sie selbst nacheinander abgestochen werden, weil sie eben diese Regeln missachten. Diese ganze Szene wird selbst in einer Situation der Beobachtung zweiter Ordnung von einer versteckten Kamera aufgenommen, und die Fernsehjournalistin im Übertragungswagen muss ebenfalls zurückspulen, um zu sehen, was dort geschieht.

Es wird eine neue Kulturtechnik der Filmbetrachtung gezeigt, die nicht mehr auf das organische Ganze des Films, auf seine geschlossene Dramaturgie setzt, sondern auf den Kitzel der einzelnen Filmszenen. Man könnte diese Art der Betrachtung »Stellenlektüre« nennen, und Stellenlektüre funktioniert auch deswegen, weil der Regelsatz, nach dem diese Filmgenres funktionieren, bekannt ist. Der Zuschauer weiß, dass es im Slasher- und Splatterfilm um exponierte Stellen der Gewalt geht und dass diese in einem Schematismus der Wiederholung eingespannt sind. Durch seine »Wiederholungslektüre« ist der Zuschauer ein »Kenner« dieser Filmgenres geworden, und er genießt bevorzugt noch die »Machart« der einzelnen Stellen, der Gewalt-Nummern. Aber da Filmbeispiele häufig einen nur ungenügend verallgemeinernden und theoretischen Charakter haben, um die neuen Kulturtechniken an der Kopplung Splatterfilm-Videorecorder-Fernbedienung auch plausibel zu machen, soll noch ein Umweg gegangen werden, der an dem alten Medium der Literatur vorbei und wieder zum Thema der Pornografie zurückführt.

Galante Lektüre

In Francis Ford Coppolas Literaturverfilmung Bram Stoker’s Dracula (US 1991) geht es so ziemlich um jedes technische Aufzeichnungs- und Abspielmedium, das Ende des 19. Jahrhunderts existiert – bis hin zu einer anachronistischen Aufführung des Mediums Film selbst, das erst nach dem Setting des Romans, der 1890 spielt, erfunden wurde. In einer Salonszene geht es zur Abwechslung aber auch einmal um ein sehr altes Medium. Zunächst sitzt Mina Murray, die Verlobte von Jonathan Harker, wie üblich an ihrer Schreibmaschine und tippt. Dann fällt ihr aber ein dickes Buch vom Schreibtisch, das sich auf dem Boden öffnet und eine Farbtafel zeigt. Als Minas Freundin Lucy hinzukommt, legt Mina das Buch verschämt auf den Schreibtisch zurück. Zusammen blättern sie dann aber doch in dem Buch und betrachten vor allem die Farbtafeln. Eine Sammlung an unterschiedlichen »Stellungen« verschiedener Geschlechtsakte illustriert das Werk. Das Buch erweist sich als die englische Ausgabe der Arabian Nights (1885 – 88), übersetzt von Sir Richard F. Burton, wie eine Nahaufnahme des Buchdeckels zeigt. »Können Mann und Frau das wirklich tun – so herum?«, ist die ungläubige Frage der viktorianischen Verlobten Mina. Die abenteuerlustige Lucy antwortet: »Ich habe es getan, gerade erst letzte Nacht. Aber … in meinem Traum.« Also nur im Traum. Aber dennoch: Diese Bücher scheinen eine gefährliche Lektüre für anständige Damen der Gesellschaft darzustellen, und es geht dabei nicht um die Verteufelung der ganzen Geschichte, um die Moral oder die Dramaturgie der exotischen und erotischen Geschichten aus 1001 Nacht, sondern es geht um das Blättern, um die Farbtafeln und um bestimmte und pikante »Stellen«.

Der Kunsthistoriker Beat Wyss macht im Rahmen einer Geschichte des Buchdrucks auf die Kehrseite der Bildungsliteratur aufmerksam und gelangt damit zu einer notwendigen Fortsetzung der monumentalen Studie zum Buchdruck in der frühen Neuzeit von Michael Giesecke. (Giesecke 1998) Denn es beginnt neben dem Druck von Bibeln und Erbauungsliteratur auch schnell die Produktion von pornografischer Literatur: »Eigentlich hatten die Moralisten ja recht: Der Roman war die mind-machine des galanten Zeitalters; das Romanlesen eröffnete die Medienrezeption mit der rechten Hand.« (Wyss 1997: 42)

Wyss berichtet von der französischen Belletristik im 17. Jahrhundert, den »Franzenbänden«, die auch in Holland und Deutschland großen Absatz finden. Die »sujets galants« wandern in die erotischen Romane, die entsprechend illustriert sein konnten. Neben anderen Vorwürfen, die gegen das neue Medium Buch erhoben werden, ist es diese Art von Literatur, die den Widerstand der Kirche und der Moral hervorruft: »Der Zürcher Calvinist Gotthard Heidegger wetterte 1698 gegen solche ‚Buhlerpossen’, welche die ‚Brunst’, die ‚Holdschaft und kitzelnde Begirde’ weckten.« (Wyss 1997: 42) Eine vergleichbare Funktion wie die erotischen Illustrationen in den »galanten Romanen« erfüllen die erotischen Szenen im Buch selbst, und die Rhetorik der Erotik lädt, wie die Farbtafeln der Arabian Nights, zum Blättern und zum Verweilen auf bestimmten Seiten und an bestimmten Stellen des Buches ein. Und diese Art der Beschreibung führt und verführt zu einer Lektürehaltung, die seit der Existenz von Büchern verpönt ist – eben der Stellenlektüre! Und wenn die Hermeneutik, die Verstehens- und Auslegungslehre, die sich aus der Bibelexegese und -allegorese entwickelt, in der frühen Neuzeit, in der Romantik und bis heute vor einer Art des Lesens warnt, dann ist es eben diese isolierte Lektüre einzelner Stellen im Buch. So verknüpft sich der puritanische Widerstand gegen die »galante« oder »einhändige« Lektüre mit einer klassizistisch-hermeneutischen Kritik, die ausschließlich auf die organische Ganzheit eines Textes setzt und keinesfalls Blättern und Stellenlektüre erlaubt.

»Spulen« – »Stopp-Taste« – »Weiterspulen«. Die Freuden des Videorecorders

Die Fortsetzung des vormodernen Romans ist die perfekte Heimkino-Kombination von »Fernseher-Videorecorder-Fernbedienung«. Mit den neuen Betrachtungstechniken von Vorspulen, Anhalten, Pausieren, Zurückspulen etc. am Videorecorder und zudem bequem und einhändig an der Fernbedienung eröffnen sich genau die Möglichkeiten einer Kulturtechnik des Blätterns und der Stellenlektüre, die der »galanten Lektüre« entsprechen. Endlich können die langweiligen Stellen aus Filmen, die vielleicht eh schon bekannt sind, ausgeblendet werden, damit man schnell – sei es im pornografischen Film, im Musical, im Actionfilm oder eben im Splatterfilm – zu den entscheidenden Stellen des Interesses, den »Nummern«, gelangt. Der Zuschauer spult sich von Sex-Szene zu Sex-Szene, von Action-Set zu Action-Set oder eben von Gewaltstelle zu Gewaltstelle und merkt dabei, dass er zumindest im Slasher- oder Splatterfilm, was den Schauwert dieser Filme anbelangt, offensichtlich nichts verpasst!

Das Thema der obsessiven Stellenlektüre von Gewaltszenen in der Literatur scheint im Gegensatz zur pornografischen Lektüre kein pädagogisches oder kein Forschungsthema zu sein. Allenfalls die Szenen selbst, wie im bekannten Falle des Romans American Psycho (1991) von Bret Easton Ellis, erfahren eine kritische Beurteilung. Vielleicht benötigt Gewalt aber, wie Nancy es schon formuliert, das Bild, und das Interessante an der Monstrosität ist nur in der Verknüpfung von Gewalt und Bildlichkeit, also in medialer Rahmung, zu haben. Die Bildlichkeit von Gewalt wäre dann eine der entscheidenden Kategorien, an die sich die Möglichkeiten der Bildmedien wie Film und Fernsehen messen lassen müssten.

Der scharfsinnige Medien- und Körperbeobachter David Cronenberg findet zu diesem Themenkomplex die passendsten Bilder. Eine präzise Spiegelung der beschriebenen Kulturtechniken findet sich in dem Splatterfilm Videodrome (KAN 1982). Dort ist der Protagonist Max Renn, Leiter eines kleinen Fernsehsenders, der Porno- und Gewaltfilme ausstrahlt, auf der Suche nach der Reduzierung von Handlung zugunsten der Stellen von Sex und Gewalt, bis er mit dem Programm des vermeintlichen Piratensenders »Videodrome«, das ausschließlich und völlig ohne Narration sexuelle Gewalt in Form von Folter durch Auspeitschen zeigt, an sein Ziel gekommen zu sein scheint. Man könnte sagen, er sucht während des gesamten Films nach einem Film mit einer einzigen ausgedehnten Szene, einer einzigen »Nummer«, die Gewalt zeigt und sexuell erregend wirkt. Noch offensichtlicher wird es in dem Sexfilm Crash (KAN 1996), in dem Cronenberg tatsächlich die Rezeption von Videos vorführt, die Autounfälle mit Crash-Test-Dummies zeigen. Der Effekt dieser Videos ist ein deutlich erotisierender. Die Gruppe der Unfall-Fetischisten auf dem Fernseh-Sofa fängt bei der Betrachtung der Video-Unfälle erregt an, an sich und am Nachbarn herumzuspielen. Und nachdem ein Video-Unfall geschieht – das Videoband stockt und bleibt stehen – wird mittels der Fernbedienung nicht nur weitergespult, sondern genau diese „Unfallszene“ soll langsam und en detail erscheinen. In beiden Filmen bestätigt sich vordergründig auch die Befürchtung aller aufrechten Medienpädagogen vom Schlage eines Neil Postman, dass Gewalt magisch vom Fernsehgerät auf die Realität überspringt. Denn Max Renn läuft nach dem Betrachten der Videodrome-Videos tatsächlich mit einem Revolver durch die Gegend und erschießt Menschen, und die Unfall-Sektierer in Crash stellen die Autounfälle selbst und mit teilweise tödlichem Ausgang nach! In beiden Fällen muss aber der Stellenwert beziehungsweise der Realitätsgehalt der jeweiligen Zuschauerreaktion im Film untersucht werden, denn an dieser Stelle konnten nur isolierte Stellen der Filme beschrieben werden.

Wenn man allerdings die erwähnten Kulturtechniken theoretisieren möchte, könnte man sagen, dass es unmöglich ist, festzustellen, wie Zuschauer auf Bilder der Gewalt reagieren. Die theoretisch schlichte Stimulus-Response-These der Nachahmung inszenierter Gewalttaten scheint dabei genauso lächerlich zu sein wie die Aristotelische These von der Katharsis. Feststellen muss man aber, dass Bilder der Gewalt zumindest irgendeine Art von Wirkung oder Spur und vielleicht sogar Formatierung hinterlassen. Um dies zu erforschen, scheint die Beobachtung der Kulturtechniken der Zuschauer – vielleicht auch in Wechselwirkung mit einer genauen Analyse, was gesehen wird und wie es sich historisch verändert – chancenreicher zu sein als eine quantitative Sozialforschung oder gar eine Einschätzung durch Psychologen, deren ästhetisches und mediales Verständnis weiter hinter und unter dem ihrer Probanden liegt.

Anhang: Schnittparade

Stellenlektüre im Splatterfilm entspricht praktischerweise einem Desiderat der Filmforschung und zugleich dem positivistischen Sammlerbedürfnis der Fankultur. So hat sich eine Form von Filmbetrachtung gerade in Deutschland entwickelt, die unbedingt Stellenlektüre betreiben muss. Und zwar machen sich diese Fans – wie jeder gewissenhafte Editionsphilologe – auf der Suche nach Deviationen, Korruptelen, Kontaminationen und Lücken in den Splatterfilmen. Deutsche Fassungen von Splatterfilmen haben es an sich, dass sie entweder beschlagnahmt und deswegen nicht legal erhältlich sind, oder sie kursieren in Fassungen, die mehr als nur wenige Sekunden Löcher und Zensurschnitte – »fehlende Stellen« eben – aufweisen. Aus einigen Filmen werden bis zu dreißig Minuten oder mehr entfernt, damit sie in Deutschland frei verkauft, verliehen oder im Fernsehen ausgestrahlt werden können.

Gerade in der deutschen Publizistik erfährt diese Art der Filmrezeption eine besondere Variante, die sogenannte »Schnittparade«. Aufgrund der strengen Zensurbestimmungen in Deutschland kommt ein Großteil der Splatterfilme, wenn er nicht von vornherein beschlagnahmt wird, meist um viele Szenen gekürzt in die Kinos und vor allem auf Videokassette, Laserdisc und DVD. Die Methode der Schnitt-Editionsphilologen ist nun, die Lücken und Korruptelen der deutschen Ausgaben mit den Ausgaben anderer Länder, mit den Erstfassungen oder den Fassungen »letzter Hand« zu vergleichen, um so durch einen genauen Vergleich ein möglichst komplettes Bild des Films zu erhalten. Aus der Not entwickelt sich also ein präzises Filmbeschreibungsverfahren, das Bild für Bild den Film zeigt und in Bildunterschriften genau die Handlungen und Ausschnitte kommentiert. Von Filmstill zu Filmstill sind es vor allem die Gewaltszenen, die in Deutschland geschnitten werden und die aus diesem Grund die genaueste Betrachtung erfahren. Die deutsche Fachzeitschrift Splatting Image und das Internet-Magazin www.schnittparade.de haben sich zu Spezialplattformen dieser Methode entwickelt.

Literatur:

  • Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Hg. von Renate Lachmann. Frankfurt am Main 1995.
  • Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [2. Fassung] (1935/36). In: W.B.: Ein Lesebuch. Hg. von Michael Opitz. Frankfurt am Main 1996: 313-347.
  • Mikita Brottmann: Offensive Films. Toward an Anthropology of Cinéma Vomitif. Westport 1997.
  • Umberto Eco: Wie man einen Pornofilm erkennt (1989). In: U.E.: Wie man mit einem Lachs verreist und andere nützliche Ratschläge. München 1999: 121-124.
  • Cynthia A. Freeland: The Naked and the Undead. Evil and the Appeal of Horror. Boulder, Col./Oxford 2000.
  • Michael Giesecke: Der Buchdruck in der Frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt am Main 1998.
  • Franz Kafka: Ein Landarzt. In: F.K.: Sämtliche Erzählungen. Hg. von Paul Raabe. Frankfurt am Main 1994: 124-128.
  • David Kerekes/David Slater: Killing for Culture. An Illustrated History of Death Film from Mondo to Snuff. London 1995.
  • Friedrich Kittler: Draculas Vermächtnis. In: F.K.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig 1993: 11-57.
  • Detlef Kremer: Kafka. Die Erotik des Schreibens. Bodenheim bei Mainz 1998.
  • Annette Kaufmann: Blut-Bilder. Serial Killer im amerikanischen Thriller. In: Jürgen Felix (Hg.): Unter die Haut. Signaturen des Selbst im Kino der Körper. St. Augustin 1998: 193-216.
  • Irmela Marei Krüger-Fürhoff: Der versehrte Körper. Revisionen des klassizistischen Schönheitsideals. Göttingen 2001.
  • Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt am Main 1999.
  • Jean-Luc Nancy: Bild und Gewalt. Von absoluter Offenbarung und dem unendlich Bevorstehenden. In: Lettre 49. 2000: 86-89.
  • Joachim Paech: Literatur und Film. Stuttgar/Weimar 1997.
  • Georg Seeßlen: Der pornographische Film. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main/Berlin 1993.
  • Mark Seltzer: Serial Killers. Death and Life in America’s Wound Culture. New York/London 1998.
  • Georg Stanitzek: Brutale Lektüre, “um 1800” (heute). In: Joseph Vogl (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999: 249-265.
  • Scott Aaron Stine: The Gorehound’s Guide to Splatter Films of the 1960s and 1970s. Jefferson/London 2001.
  • Linda Williams: Hard Core. Macht, Lust und die Traditionen des pornographischen Films. Basel/Frankfurt am Main 1995.
  • Beat Wyss: Die Welt als T-Shirt. Zur Ästhetik und Geschichte der Medien. Köln 1997.

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