Wahnsinn mit Routine

Die konstruktivistische Psychologie sieht in der Wahnvorstellung des Psychotikers nicht einfach eine „falsche Wahrnehmung“; sie geht vielmehr davon aus, dass zwischen der Wirklichkeit erster Ordnung (die uns allen in ihrem Sosein verschlossen ist) und der zweiter Ordnung (die nur als Bild in unserem Gehirn existiert) lediglich eine „schlechte“, das heißt: leidensverursachende interpretatorische Verbindung besteht. Der Psychotiker kann also geheilt (oder sein Leid zumindest gemindert werden), wenn seine Interpretation der Wirklichkeit einen anderen Verlauf nimmt. Dann zum Beispiel leidet er nicht mehr darunter zu glauben, ein Cyborg zu sein, er sieht es als Chance.

cyborg_poster.jpgExakt diese Re-Interpretation macht auch Young-goon (Lim Soo-jung) in Park Chan-wooks neuem Film „I’m a Cyborg, but I’m ok“ durch. Die junge Frau wird in eine Psychiatrie eingeliefert, weil sie aufgehört hat zu essen, nachdem ihre Großmutter in ein Heim gebracht wurde. Fortan glaubt Young-goon, ein Cyborg zu sein: ohne Gefühle, mit festen Existenzregeln und vor allem immer auf der Suche nach elektrischer Energie. Diese benötigt sie nämlich, um die Entführung ihrer Großmutter durch die „White ’uns“ (so nennt sie die Pfleger und Ärzte) zu rächen. Wenn sie endlich all ihr Mitgefühl abgelegt hat, ihre Batterien aufgeladen sind und sie nicht von den sie leitenden Direktiven abweicht, kann sie es schaffen: Und mehrfach hat sie auch die Vision, sich in eine Kampfmaschine zu verwandeln und mit ihren zu Waffen umgestalteten Armen unter dem Personal ihrer Psychiatrie ein Blutbad anzurichten. Nach und nach gewinnt sie das Zutrauen zum ebenfalls internierten Il-soon (Jung Ji-hoon), der sich in der Lage glaubt, alles stehlen zu können, was es gibt. Ihn bittet sie, ihr den letzten Rest Mitgefühls zu entwenden, was ihm jedoch nicht gelingt. Hingegen schafft er es, Young-goons Nahrungsphobie zu überwinden, indem er vorgibt, ihr einen Reis-Energie-Transformator einzubauen, nachdem ihm das Mädchen anvertraut hat, ein Cybort zu sein. Nach und nach genesen auf diese Weise nicht nur beide aneinander, sie beginnen auch eine Liebesbeziehung, die Young-goon schließlich dazu in die Lage versetzt, ihre geheime Identität den Pflegern zu offenbaren.

cyborg1.jpgEs sind eigentlich die Pfleger der Psychiatrie, deren Wahrnehmung von Realität in „I’m a Cyborg, but that’s ok“ geändert wird: Sie scheinen zu Beginn gar nicht in der Lage, von ihren fest gefügten Diagnose- und Therapie-Routinen abzuweichen. Daher können sie die alternative Realität, in der Young-soon lebt, auch nicht erkennen und ihr Therapiekonzept darauf abstimmen. Eine Ärztin bemerkt erst lange nach Il-soon, dass es an Young-goons Cyborg-Sein liegen könnte, dass sie nicht isst und glaubt schließlich sogar, sie geheilt zu haben, ohne von der „Laien-Therapie“ zu wissen, durch die sie bereits gegangen ist. Es braucht also eine Hilfe, die von Innen kommt, um das Verhältnis zwischen Arzt und Patienten auf dieselbe Ebene zu versetzen. Diese Hilfe findet sich in Park Chan-wooks Film im Wahnsinn der anderen Anstaltsinsassen. Man täte dem Konzept des Films Unrecht, wollte man sein doch ziemlich klischeehaftes Bild von Wahnsinn und Psychiatrie kritisieren. Der Diskurs und sein Ort (die Klinik) dienen „I’m a Cyborg, but that’s ok“ vielmehr als Experimentierfeld für die Darstellung verschiedenster Wirklichkeitskonzepte.

Und darin überbordet der Film geradezu. Ständig brechen neue Verrücktheiten in die Geschichte, bilden weitere Mosaik-Steinchen zur „Genesung“ Young-goons. Ob es nun die übergewichtige Patientin ist, die glaubt, mit Hilfe spezieller Bettsocken fliegen zu können oder der Patient, der beständig rückwärts geht, damit ihn niemand verfolgen kann – Young-goon macht sich all diese Ideen zu Eigen, um an ihr Ziel zu gelangen. Und dieses Ziel ist schließlich die Wiederbegegnung mit ihrer Großmutter, die ihr verrät, was es mit jenem Gebiss auf sich hat, dass sie zu Hause gelassen hat, als sie ins Heim gebracht wurde und worin sich der Sinn des Lebens verbirgt. Als Young-soon auf ihre Großmutter trifft (in den Schweizer Alpen, in die sie aufgrund der Wahnvorstellung einer von mitteleuropäischer Folklore besessenen Mitinsassin gelangt ist) beginnen sie, ihre bis dahin leidvollen Konfrontationen mit der Realität umzudeuten. Sie knüpft neue soziale Kontakte innerhalb der Insassengruppe, von der sie sich bis dahin weitestgehend separiert hatte und – wer weiß – gelangt schließlich an einen Punkt, an dem sie aus der Klinik entlassen werden kann. Das zeigt uns Park Chan-wook jedoch nicht, denn das ist nicht das Ziel des Films. Er endet mit einer Vogelperspektive auf ein Picknick, das Young-goon und Il-soon veranstalten und das mit einer Liebesszene und einem ziemlich unrealistischen beziehungsweise andersrealistischen Regenbogen endet.

I’m a Cyborg, but that’s ok
(Saibogujiman kwenchana, Korea 2007)
Regie: Park Chan-wook; Buch: Seo-Gyeong Jeong & Chan-wook Park; Musik: Yeong-wook Jo; Kamera: Jeong-hun Jeong
Darsteller: Byeong-ok Kim, Su-jeong Lim, Dal-su Oh u.a.
Verleih: n.n.

Diese Kritik ist zuerst erschienen in der Zeitschrift „Schnitt“ (#49, 01/2008, S. 51)

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