Unterwegs zur Sprache

1974 befand sich Werner Herzog am Beginn seiner Karriere. Mit Aguirre – Der Zorn Gottes (1973) war ihm der Durchbruch als international gefeierter Autorenfilmer gelungen, der selbst unter größten Schwierigkeiten und Gefahren für Leib und Leben Filme drehen konnte – ja, musste, wenn man seinen Worten glauben möchte. Jeder für sich und Gott gegen alle – Kaspar Hauser hat ihn zurück nach Europa geführt, wo er eine Reihe „radikaler Heimatfilme“ inszenierte: Nach Kaspar Hauser folgten Herz aus Glas, Stroszek, Nosferatu und Woyzek. Bis auf Stroszek allesamt Stoffe die auch sehr von den europäischen Landschaften zehren.

Dem Kaspar Hauser-Stoff hat sich Herzog ohne große Recherchen zum historischen Fall angenommen. Im Zentrum seiner Auseinandersetzung mit dem 1882 aufgefundenen „L’Enfant sauvage“ stand vielmehr ein Gedankenexperiment: Wie reagiert jemand, der bis dahin nur die Natur und die Kreatürlichkeit gewohnt war auf einen Zusammenstoß mit der Kultur – und wie reagiert diese Kultur im Gegenzug. Ein Thema, dass bereits in früheren Stoffen Herzogs zentral war: In Auch Zwerge haben klein angefangen ist es der „kultivierte Wahnsinn“ in Form einer Irrenanstalt, die mitten im Vulkangestein Lanzarotes steht; in Aguirre – Der Zorn Gottes sind es die Eingeborenen Südamerikas, die auf die Conquista treffen und umgekehrt.

Die Geschichte vom Kaspar Hauser wird von Herzog also vor allem aus dieser Perspektive beleuchtet und die Szenen des Films referieren Begegnungen von Kaspar mit seinen Mitmenschen: Zuerst sein Ziehvater (Hans Musaeus), der Kaspar das Schreiben beizubringen versucht, danach der Rittmeister (Henry van Lyck), der Kaspars Identität polizeilich vergeblich feststellen lassen will; schließlich Professor Daumer (Walter Ladengast), der Kaspar bei sich aufnimmt und ihn „kultiviert“. Das Verhältnis beider ist jedoch von größtmöglichem gegenseitigen Unverständnis, oder genauer: Nichtverstehenkönnen gekennzeichnet. Denn während Daumer versucht, Kaspars Denken an die Gesetze der Natur und der Kultur zu gewöhnen, stäubt sich dieses und entwickelt sich hin zu einem „wilden Romantizismus“ des Nichtverstehenkönnens und -wollens.

Etliche Momente des Films dokumentieren dieses a-kulturelle, a-wissenschaftliche und a-logische Aufbegehren Kaspars. Im Zentrum können hierfür vier Szenen stehen: Die Lektionen der beiden Geistlichen, die in Kaspar eine „natürliche Idee Gottes“ zu finden hoffen, jedoch nur auf Skeptizismus stoßen. Die Lektion Daumers und eines der Geistlichen (Enno Patalas), die Kaspar davon überzeugen wollen, dass die dingliche Welt dem Willen des Menschen gehorcht und ihm dies in einem Experiment mit einem „willenlos rollenden“ Apfel verdeutlichen wollen, was allerdings vollständig „daneben geht“. Die Szene, in der Kaspar in die höheren Gesellschaftsschichten eingeführt werden soll, sozusagen als „Enfant terrible“, sich jedoch in seiner brachial-intelligenten Natürlichkeit schnell als sehr kritisch und wenig zähmbar erweist. Und schließlich jene Szene, in der Kaspar von einem Logik-Professor (Alfred Edel) auf seine Denkfähigkeit hin geprüft und mit einer typischen philosophisch-logischen Aporie konfrontiert wird, für die er eine „ganz und gar unphilosophische“ Lösung anbietet, die der Professor nicht akzeptieren kann, weil er nicht gelernt hat zu verstehen, sondern zu schließen.

Kaspar wird von Herzog als Held dargestellt – aber als verzweifelter Held. Sicherlich ist das Bild, das Herzog von der Kultur und ihrem Kontrast in Kaspar zeichnet, vom Vorurteil geprägt, dass es kein richtiges Leben im Falschen geben kann. Fast schon möchte man meinen, der Film hätte reaktionäre Züge in all seiner Verherrlichung von Kaspars natürlicher Naivität. Doch dies wird durch seine Melancholie, ja fast schon Depression und sein Nichtverstandenwerden relativiert. So zeigt sich der Film dann zuvorderst auch eher als das Protokoll eines Cultural Clashs, der Nichtüberwindbarkeit von Sprachbarrieren und der Tatsache, ohne seine Kultur nicht überlebensfähig zu sein.

Innerhalb Herzogs filmischen Oevres deutet Kaspar vieles voraus: Hier setzt Herzog Schauspieler ein, die in darauf folgenden Filmen zu wichtigen „Leitfiguren“ werden: Clemens Scheitz als schon fast lächerlich peniblen Protokollant sieht man in Stroszek und Nosferatu wieder, Walter Ladengast brilliert in Nosferatu als Van Helsing, Alfred Edel spielt später in Stroszek Brunos bewährungshelfenden Gefängnisdirektor. Und dann gibt es Gastauftritte von Herzogs „Hauskomponist“ Florian Fricke, vom Filmhistoriker Enno Patalas und natürlich das kaum zu unterschätzende Spiel von Bruno S., der hier als Kaspar Hauser zum ersten Mal zeigt, welche Fähigkeiten zur authentischen Darstellung in ihm stecken – dies wird er drei Jahre später in Stroszek zu zweiten und letzten Mal unter Beweis stellen.

Kaspar Hauser ist innerhalb der Geschichte des Neuen Deutschen Films – wie eigentlich alle Beiträge Herzogs – ein Ausnahmefilm, der sich gegen die „Politik“ der Autoren, sozialpolitisch sein zu müssen, wehrt und anstelle dessen bis dahin völlig unbekannte Erzählverfahren heranzieht, um seine Philosophie zu unterbreiten. Als Filmkunstwerk kann Kaspar Hauser nicht genug gewürdigt werden und erfärht mit seiner Veröffentlichung auf DVD jetzt endlich auch die notwendige Grundlage zu einer breiten Rezeption in adäquater Aufmachung.

Jeder für sich und Gott gegen alle – Kaspar Hauser
(D 1974)
Regie & Buch: Werner Herzog
Kamera: Jörg Schmidt-Reitwein; Schnitt: Beate Mainka-Jellinghaus; Musik: Florian Fricke und andere
Darsteller: Bruno S., Walter Ladengast, Brigitte Mira, Michael Kroecher u. a.
Verleih: Kinowelt; Länge: 105 Minuten


Die DVD von Kinoweltbei Kinowelt gibt man sich die erdenkliche Mühe, das (spiel)filmische Schaffen Herzogs auf DVD zu würdigen. Nachdem bereits Woyzek und Cobra Verde veröffentlich wurden, liegt nun Kaspar Hauser vor (Stroszek wird in Kürze folgen).Die Qualität der DVD in Bild und Ton ist gut – lässt sich aber vor allem beim Bild auf Grund der zahlreichen optischen Verfremdungseffekte, die Herzog im Film eingesetzt hat, nicht richtig bewerten. Störungen und Schwächen sind keine zu finden.

Die Ausstattung ist erfreulich: Neben ein paar Hinter-den-Kulissen-Fotos findet sich auf der DVD ein Audiokommentar des Regisseurs und eine halbstündige Dokumentation über die Film-Biografie Herzogs, von ihm selbst inszeniert.

Die Ausstattung im Einzelnen:

# Bild: 1,78:1 (Letterbox), Code 2, PAL
# Ton: Deutssch (Mono, Dolby Digital)
# Extras: Audiokommentar von Werner Herzog und Laurenz Straub, Auszüge aus dem Drehbuch, Fotogalerie, Filmografie Werner Herzogs, Dokumentation „Portrait Werner Herzog“

Preis: 14,99 Euro

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Stefan Höltgen

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