Nachbeben

Der Selbstjustizfilm hat sich als Subgenre fest etabliert. Alle paar Jahre erfährt er eine Aktualisierung, indem er seine Verbrecher den gerade kursierenden Angstvorstellungen anpasst, in seinen Gewaltdarstellungen heftiger wird (schließlich diagnostiziert er ja auch auf Inhaltsebene die zunehmende Brutalisierung der Gesellschaft) und als logische Konsequenz auch seine Vigilanten immer rücksichtsloser vorgehen lässt. „Savage“ geht jedoch einen Schritt über solche rein kosmetischen Veränderungen hinaus: Er stellt nicht das Verbrechen und den anschließenden Vergeltungsakt in den Mittelpunkt, sondern die seelische Verwundung, die das Opfer nach einem ebenso brutalen wie sinnlosen Überfall erleidet und die es in den Sog der vielfach beschworenen Gewaltspirale reißen.

Paul Graynor (Darren Healy), ein junger, mit seinem langen, vollen Haar und der modischen Kleidung sehr feminin wirkender Mann, arbeitet als Fotograf für die Presse und lässt sich als solcher nicht durch Rücksicht oder Mitleid von einem guten Foto abhalten. Das ändert sich, als er auf den Straßen Dublins zwei Schlägern zum Opfer fällt, die ihn grundlos malträtieren und ihn „zur Strafe“ kastrieren. Für Paul ist danach nichts mehr wie vorher: Hinter jedem Menschen vermutet er einen Feind, noch das kleinste Detail ruft Erinnerungen an den schrecklichen Vorfall wach und sein Selbstbild gerät ins Wanken. Die Versuche seiner Freundin Michelle (Nora-Jane Noone), ihm zu helfen, sind ebenso ergebnislos wie die Besuche bei einer Psychologin oder dem Selbstverteidigungskurs. Nur eins kann Paul helfen: Die Wiedererlangung seiner Männlichkeit durch einen Vergeltungsakt …

Brendan Muldowney leistet in „Savage“ zunächst Beachtliches: Er ermöglicht es dem Zuschauer, sich in das Opfer eines Überfalls hinein zu versetzen, die mit einem Mal feindlich gewordene Welt durch dessen Augen zu sehen und zu erfahren, wie es sich wohl anfühlen mag, wenn man hinter jeder Straßenecke und in jedem noch so harmlosen Passanten einen Feind vermutet. Gewalt, die im Film allzu oft höchstens körperliche Schäden nach sich zu ziehen scheint und meist als effektives Mittel zur Problemlösung dargestellt wird, wird in „Savage“ als alles zerstörende Kraft gezeichnet. Wie Paul sich grübelnd und mit gebrochenem Blick in seiner abgedunkelten Wohnung verschanzt, wie er sich durch die Straßen bewegt, als sei er auf der Flucht, wie er jedem Augenkontakt ausweicht und dann doch plötzlich von der Angst übermannt wird und davon rennt, macht unmissverständlich deutlich, dass die Narbe, die er seit dem Überfall im Gesicht trägt, nur ein kleines äußerliches Zeichen viel schwererer Verletzungen ist.

Doch Muldowney geht noch einen Schritt weiter: Er findet den Kern des Übels in westlichen Männlichkeitsbildern, die „Potenz“ vor allem am Körper und in der Dominierung von Machtstrukturen festmachen. Mann ist, wer über einen starken, wehrhaften Körper verfügt, wer Sex hat und mit seiner Promiskuität prahlt und sich physisch wie verbal über andere Menschen hinwegsetzt. Erst dieses Männlichkeitsbild stürzt Paul in die Katastrophe: Stark war er noch nie, doch hatte er immer noch sein Geschlecht und seinen Testosteronspiegel, die ihm seiner Männlichkeit versicherten. Jetzt wo er diese verloren hat, gibt es für ihn nur noch eine Möglichkeit, seine Mannhaftigkeit zu demonstrieren: Er muss sich mit Gewalt über andere stellen und diese unterwerfen.

„Savage“ schwächelt ein bisschen, wenn er den Umschwung vom passiven Opfer zum Aggressor nachzeichnen muss. Vielleicht kommt ihm auch die klischierte Bildsprache in die Quere, die dem Zuschauer eine genuine Erfahrung versperrt. Das Dublin des Films ist grau und kalt, die Menschen sprechen nicht miteinander, sie bellen sich an, und mit den modernen Mitteln der Postproduktion verengt Muldowney den Fokus seines Protagonisten, bis der nur noch einen Ausweg sieht. Man kennt das aus zahlreichen urbanen Crime-, Action- und Horrorfilmen, weiß jedem Bild sofort die ihm per Konvention zukommende Bedeutung zuzuschreiben, ohne dass man sie tatsächlich noch erfühlen könnte. Es ist auch der fassettenreichen Darstellung Darren Healys zu verdanken, dass die Zwischentöne nicht vollständig verwischt werden. Unter dem Strich bleibt dennoch ein überaus sehenswerter und ungemein beklemmender Film, der einen mit seinem krassen Finale ins Ungewisse entlässt.

Savage
(Irland 2009)
Regie: Brendan Muldowney; Drehbuch: Brendan Muldowney; Musik: Stephen McKeon; Kamera: Tom Comerford, Michael O’Donovan; Schnitt: Mairead McIvor
Darsteller: Darren Healy, Nora-Jane Noone, Alan King, Andrew Bennett, Feidlim Cannon
Länge: 85 Minuten
Verleih: I-On New Media

Zur DVD von I-On New Media

„Savage“ erscheint in der exzellenten „Edition Störkanal“, die sich – im weitesten Sinne – dem Genrekino jenseits von CGI-Blut und Fun-Splatter widmet. Alle Filme erscheinen als Digipak im Pappschuber mit eingeklebtem Booklet. Im vorliegenden Fall enthält dieses ein Interview mit Regisseur Brendan Muldowney. Außer einem Trailer gibt es keine weiteren Extras.

Bild: 2,35:1 (anamorph/16:9)
Ton: Deutsch, Englisch (Dolby Digital 5.1)
Untertitel: Deutsch
Extras: Booklet, Trailer
Freigabe: FSK 18
Preis: 15,99 Euro

Diese DVD bei Amazon kaufen.

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.