Der Selbstjustiz-Film ist seit Ende der 1980er etwas aus der Mode gekommen; Vigilanten, die die Vergewaltigung ihrer Verwandten, die Verwahrlosung von Stadtvierteln oder einfach ihre eigene Erfolglosigkeit mittels Rache an den sowieso immer schuldigen Mitbürgern kompensieren, haben irgendwie den Nimbus rechtsradikaler Kultur- und Sozialpessimisten bekommen. Spätestens mit Joel Schumachers „Falling Down“ ist aus dem rotsehenden Mann der amoklaufende Irre geworden (den nur noch Uwe Boll heldenhaft findet), der zwar in den Augen vieler das richtige tut – dies aber aus den falschen Gründen. Mit Clint Eastwoods „Gran Torino“ hat das Subgenre das Sujet noch einmal zu reanimieren versucht als den clash of the generations, ausagiert mit Waffen. Denn dass „die gute alte Zeit“ vorbei ist, in der Jugendliche Älteren den Sitzplatz im Bus frei gemacht haben, und nun anstelle dessen lieber den Sitz rausreißen und damit auf die Alten eindreschen, ist die bittere Erkenntnis der Helden von Gestern. Die Conclusio daraus heißt: sich dem Schicksal fügen oder die Sache (z. B. den Bussitz) selbst in die Hand nehmen.
Daniel Barbers Film „Harry Brown“ schwimmt mit diesem Sujet im Fahrwasser von Eastwoods „Gran Torino“ und hat sogar einen gealtertern Filmhelden zu bieten: Michael Caine in der Rolle des verrenteten Titelhelden. Dieser lebt mit seiner Frau in einem etwas heruntergekommenen Bezirk Londons. Seine Tochter ist seit langer Zeit tot, seine Frau liegt im Sterben und sein bester Freund, ein greiser Schach-Kumpan, überlegt, angesichts der marodierenden Jugendbanden, sein Schicksal in Form eines alten Gewehr-Bajonetts zur Selbstverteidigung selbst in die Hand zu nehmen. Als Harry Brown aufgrund eines jugendgewaltbefürchteten Umwegs zu spät ins Krankenhaus kommt, um beim Sterben seiner Frau dabei zu sein, und der Schach-Kumpan mit seiner eigenen Waffe erdolcht aufgefunden wird, hat Harry Brown genug vom passiven Widerstand. Er organisiert sich Waffen und beginnt seine Wohngegend vom Übel der Jugendkriminalität zu reinigen. Die Polizei ist ihm nicht nur nicht dabei behilflich, sie versucht ihn – allerdings vergebens – aufzuhalten. Dass die Jugend gar nicht der verdorbene Kern und damit das eigentliche Problem ist, lernt Harry Brown, als es beinahe zu spät ist.
Gründe dafür, Gewalt als gerecht zu legitimieren, wenn sie nicht von denen ausgeübt wird, die die exekutive Befugnis dazu haben, ist immer ein schwieriges Unterfangen in der Kunst. Stets bleibt ein „Rest“, der die Gewalt-Gegengewalt-Bilanz nicht bei Null ankommen lässt. Und dieser Rest ist es, der entweder ignoriert werden muss („Death Wish“) oder zum Kollaps führt („Gran Torino“). Im Gegensatz zu Eastwoods Film, vermag „Harry Brown“ nämlich nicht, seine Geschichte zu erzählen, ohne sich selbst für das darin präsentierte Weltbild zu schämen. Dass die Jugend den Untergang der Zivilisation im Schilde führt, ist bereits seit Platon bekannt; Charles Bronson und Michael Winner hatte dieses Wissen ausgereicht, die Jugendkriminalität aktiv zu senken. Daniel Barber benötigt in „Harry Brown“ allerdings eine hintergründige Verschwörung, um die Selbstjustiz des Alters gegen die Jugend zu rechtfertigen. Und genau an dieser Stelle wird der Film unglaubwürdig und ein bisschen rechtsradikal. Denn ex post stellt „Harry Brown“ nicht nur die britische Jugend als unrettbar und die britische Justiz als unfähig hin, sondern propagiert Ehre-Bilder des Zweiten Weltkrieges, in denen Helden noch wussten, warum sie einander umbringen – jedenfalls taten sie es nicht „for entertainment“, wie der Titelheld moniert.
Zwar ist „Harry Brown“ affektorientiert in Szene gesetzt, fulminant insbesondere von seinem Hauptdarsteller Michael Caine gespielt und in seiner Düsternis ein beunruhigendes Bild der sozialen Wirklichkeit Londons. Doch genau für dieses letzte Moment biegt der Film sein Motiv ein wenig zu stark. Was Joel Schumacher, der seinen Helden in „Falling Down“ lieber zum Wahnsinnigen erklärt hatte, noch aus Scham vermieden hat, das ist für Daniel Barber kein Grund, sich nicht die Finger schmutzig zu machen: Der Aufstand des kleinen Mannes ist gut und gerecht und am Ende müssen alle sterben, die ihm in den Weg gekommen waren. Selbst die, die auch nur Opfer sind, dabei aber auf der falschen Seite (eben nicht Harrys Seite) standen, bekommen, was sie verdient haben – jedoch nicht aus Harrys Revolver, sondern als Querschläger oder just-for-fun per Drive-by-Shooting. Ein Held wie Harry Brown bekleckert sich die weiße Weste nicht mit Blut, denn wenn das trocknet, hinterlässt es hässliche braune Flecken.
Harry Brown
(UK 2009)
Regie: Daniel Barber; Buch: Gary Young; Musik: Ruth Barrett, Martin Phipps; Kamera: Martin Ruhe; Schnitt: Joe Walker
Darsteller: Michael Caine, Emily Mortimer, Charlie Creed-Miles, David Bradley, Iain Glen, Sean Harris, Ben Drew
Länge: 103 Minuten
Verleih: Ascot Elite