Etwas durchgeben

Werner Herzogs Stroszek ist nur auf Grund eines gebrochenen Versprechens entstanden: Nachdem Herzog zusammen mit dem Laiendarsteller Bruno S. 1974 den Film Jeder für sich und Gott gegen alle – Kaspar Hauser inszeniert hatte, versprach der Regisseur dem Berliner Hinterhofmusiker noch einen weiteren Film, nämlich Woyzeck, mit ihm zu drehen. Als sich Herzog an die Planung zu Woyzeck heran machte, stellte er jedoch fest, dass dies keine Rolle für Bruno S. sei, sondern viel besser zu Klaus Kinski, mit dem er bereits bei Aguirre – Der Zorn Gottes (1971) zusammengearbeitet hatte, passte. Und so versprach Herzog Bruno S. am Telefon, dass er ein neues Drehbuch für einen ganz neuen Film für ihn schreiben würde – und das innerhalb einer Woche. Stroszek klingt deshalb nicht nur zufällig so ähnlich wie Woyzeck.Das Versprechen Herzogs entpuppt sich in der Rückschau jedoch als viel folgenreicher, als solch ein „Zufall“ es vermuten lassen könnte. Mit Stroszek findet Herzog entgültig zu seiner hybriden Art des Spielfilm-Dokumentarfilm-Kinos, dass seine Stoffe künftig immer stärker prägen wird; die Spielfilme dokumentarischer und die Dokumentarfilme fiktionaler geraten lässt. Denn Stroszek erzählt nicht mehr als die Lebens- und Leidensgeschichte seines Hauptdarstellers. Zwar ist nicht alles, was im Film gezeigt wird, in dem Sinne authentisch, dass Bruno S. es wirklich so erlebt hat, doch ist die Geschichte des gepeinigten Ex-Sträflings, der nach Amerika geht, dort das Glück sucht, aber nur den Untergang findet, eine jener typischen „filmischen Interpretationen“ Herzogs.

Der authentische Moment des Films verlagert sich auf drei Ebenen: Zum einen sind viele der kleinen Anekdoten und Begebenheiten, die Bruno S. „durchgibt“ (so nennt er es, zu erzählen, was der Sache selbst schon deklamatorischen Charakter verleiht), Anekdoten aus seinem Leben. Etwa die Geschichte, wie mit ihm als Bettnässer im Kinderheim verfahren wurde oder seine Kurzbiografie, die er dem Gefängnisdirektor an den Kopf wirft („mit den Heimen fing es an …“). Die zweite Form der Authentizität findet sich in der Darstellung der Figur Bruno durch Bruno S. Sein Spiel ist geprägt vom echten Ausdruck. Herzog hat viele Szenen des Films nur ein mal gedreht, weil sich die Mimik, Gestik und Aussagen seines Hauptdarstellers, die oft genug frei improvisiert sind, einfach nicht wiederholen lässt, ohne dabei an Authentizität einzubüßen. So wirkt Bruno so brachial „wirklich“ und verblüffend „nah“, wie man es bis dahin und seit dem selten in einem Spielfilm erleben durfte. Die dritte Form der Authentizität bezieht Herzog aus den Bildern: Hier ist es zum Beispiel die Hinterhof-Tristesse von Berlin Kreuzberg, durch die er Bruno musizieren lässt (alles Orte aus dem Leben Bruno S.’ bevor er Herzog kennen gelernt hat). Und in Amerika angekommen, sucht er sich keinen geringeren Ort als das Minikaff Plainfield (Wisconsin) für seine Untergangserzählung aus: Der Ort ist geprägt von den Taten des Serienmörders Edward Gein, der dort Mitte der 50er Jahre Frauen ermordet und Leichen vom Friedhof gestohlen hat, um seine sexuellen Wünschen zu befriedigen. Die Agressivität, die seit dem über dem Örtchen liegt, offenbart sich in jeder Szene des Films und affiziert schließlich auch die Immigranten Bruno, Eva und Clemenz.

Diese drei Typen von Authentizität werden auch in der Kunsttheorie als die drei Bedeutungen des Begriffs gesehen: Authentizität der Fakten, der Darstellung und der Inszenierung. Indem Herzog sie zum Prinzip seines Spielfilms macht, gibt er die herkömmliche Form der Narration auf zugunsten eines Effektes, der den Zuschauer ergreifen soll und jenseits reiner Fiktion liegt, auf. Seine Spielfilme enthielten schon zuvor immer auch ergreifend unangenehme Momente und Momentaufnahmen, die quasi wie zufällig eingefangen schienen (etwa die Tieraufnahmen in Auch Zwerge haben klein angefangen von 1968 oder in Aguirre – Der Zorn Gottes und Kaspar Hauser). Diese Momente werden nun häufiger und systematischer in die Spielfilmhandlungen einbezogen. Im Gegenzug werden Herzogs Dokumentarfilme immer fiktionaler: Und auch hier ist die Fiktionalität nur ein ergänzender und kein übertönendes Prinzip, das sich zuvor schon in Ansätzen zeigte. Etwa in Land des Schweigens und der Dunkelheit (1971), in welchem Herzog das Leben einer taub-blinden Frau „interpretiert“. Seine Interpretation äußert sich dahingehend, dass es nicht die eigenen Erlebnisse der Frau sind, die inszeniert werden, sondern die Vorstellungen Herzogs, wie es wohl sein muss, taub und blind zu sein. Was zunächst für einen Dokumentarfilmer „verwerflich“ anmutet, erhält seinen Sinn darin, dass es ja eine Übersetzungsarbeit ist, die Filmemacher für ihr Publikum leisten müssen. Und die besteht bei Herzog darin, die Faszination eines eigentlich unzeigbaren Phänomens in Bilder und Worte zu übertragen. Dieses Prinzip, dass sich bei Land des Schweigens und der Dunkelheit noch allein auf Erzählungen stützte, wird nach Stroszek von Herzog auch auf andere Phänomene ausgeweitet: In La Soufrière (1977) bringt er sich und sein Team selbst in Lebensgefahr, indem er zu einem kurz vor der Explosion befindlichen Vulkan reist, um dort einen Mann zu interviewen, der sich nicht evakuieren lassen will. Die Lebensgefahr des Mannes wird von Herzog durch die sprichwörtlich „künstlich erzeugte Dramatik“ verdoppelt. Im jüngeren Dokumentarfilmwerk Herzogs finden sich etliche solcher dramatisierender und fiktionalisierender Momente wieder.

Stroszek ist wohl auch deshalb Herzogs privatester und wichtigster Film und damit sein „geheimes Meisterwerk“. Der Film ist spröde und unangenehm, lässt keine Teilnahmslosigkeit zu. Er reibt sich durch seine Erzählung, die nur sehr gemächlich vorangebracht wird, an den Seherfahrungen seiner Zuschauer; wirkt nahezu zeitlos in seinen Bildern und der Parabel, die er zu vermitteln versucht: Dem ewigen Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung … für den Herzog spiel(film)erisch den Übersetzungsmodus der Authentizität gefunden hat.

Stroszek
(D 1977)
Regie und Buch: Werner Herzog
Kamera: Thomas Mauch, Schnitt: Beate Mainka-Jellinghaus; Musik: Chet Atkins & Sonny Terry
Darst.: Bruno S., Eva Matthes, Clemens Scheitz, Wilhelm Prinz von Homburg u. a.
Verleih: Kinowelt/Arthaus, Länge 104 Minuten


Die DVD von Kinowelt

Die DVD von Kinowelt gehört zu einer Reihe von Veröffentlichungen der Filme Werner Herzogs, die die am 20. April erscheinende Herzog/Kisnki-Box säumen. Die Aufbereitung der DVD ist dabei tadellos und besticht vor allem durch das hervorragende Bild. Daneben findet sich auf der DVD der im Film referenzierte Dokumentarfilm Herzogs How much wood would a woodchuck chuck (1976) sowie ein paar behind the scenes-Fotografien und faksimilierte Auszüge aus dem Drehbuch Herzogs. Hochinteressant ist auch auf dieser DVD der Audiokommentar des Regisseurs.

Die Daten im Einzelnen:

Bild: 1,66:1, PAL (Ländercode 2)
Ton: Deutsch
Zusatzmaterial: Audiokommentar mit Werner Herzog und Laurens Straub, Auszäge aus dem Drehbuch, Dokumentation How much wood would a woodchuck chuck (45 Min.), Fotogalerie, Biografie Werner Herzogs und Trailer
Länge: 104 Minuten
Preis: 19,99 Euro

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