Der Mann ohne Vergangenheit

Blue Moon, Österreich 2002, Andrea Maria Dusl

Man hätte diesen Film auch ganz anders inszenieren können: Ein Mann, von dessen Vergangenheit wir wenig – ja gar nichts, eigentlich – wissen, verbockt eine Geldübergabe, deren Hintergründe wir nicht kennen. Eine so schöne wie geheimnisvolle Frau rettet ihn aus dieser misslichen Situation, dem folgt eine Irrfahrt quer über den (ost-)europäischen Kontinent, an deren Ende es doch nur noch um eine Sache gehen kann: Dass beide sich, wie auch immer, kriegen. Man hätte ein Genre-Einerlei draus machen können, mit etwas Action hier und da, mit etwas behaupteter Dramatik und Sentiment. Einen Film wie viele andere auch: Schnell gedreht, gesehen, vergessen. Regisseurin Andrea Maria Dusl hat sich anders entschieden. Zum Glück.

Es ist eine seltsame, langsame Reise, deren Zeuge wir werden. Quer durch Ost-Europa, das trotz steter geografischer Benennungen – paradoxerweise – doch orts- und bezugslos zu bleiben scheint. Eine Welt, nicht vollkommen jener fantastischen „Interzone“ aus Cronenbergs Naked Lunch fremd, in der sich die Wege der Menschen kreuzen, vereinen, teilen, immer wieder. Weite Fernen, weiter Himmel.

Der Mann, den wir nicht kennen, das ist der Österreicher Johnny Pichler (Josef Hader). Ob das wirklich sein Name ist, wer weiß das schon. Zumindest hat er kurz, vielleicht ja wirklich einen Moment zu lang, überlegt, als er danach gefragt wurde. Johnny, das klingt vielleicht etwas verwegener als, sagen wir, Johannes. Klingt nach Freiheit und, ein wenig zumindest, nach alten Westernhelden. Wie ein solcher bewegt er sich – stets unrasiert, leger gekleidet, eher etwas wortkarg, im Handgepäck stets eine kleine Digitalvideokamera, die ihm doch eigentlich gar nicht gehört – durch die weite Prärie Osteuropas, durch endlose Landschaftsflächen und die Saloons der Plattenbaumetropolen. Und ja, die Freiheit! Ein Ballerina-Püppchen, das, in einer Flasche eingekorkt, vor sich hintanzt, wird ihm zum Anlass von Meditationen, das zerschmetterte Glas zum Sinnbild für den Ausbruch. Schafen will er in einem der schönsten Bilder des Films beibringen, über die einpferchenden Zäune zu springen: Eine der wenigen Szenen, in denen er lacht, ausgelassen scheint. Und dann das Meer, so weit weg, wie gern will er doch dahin. Ein Mensch, der sein altes Leben – wie es aussah, wissen wir nicht, ein paar Weisheiten der „Pichler-Oma“ gibt’s manchmal aus dem Off – ohne mit der Wimper zu zucken hinter sich lässt, als sich die Gelegenheit bietet.

Nach dem Namen gefragt wurde er von Shirley (Victoria Malektorovych). Oder Jana. Oder Dana. Wer weiß das schon. Sie, Hostess, saß im Wagen des russischen Gangsters gleich zu Beginn, der Johnny, weil er zu wenig Geld mitbringt, ins Auto packt und mitnehmen will, als Geisel vermutlich, denn Johnny ist ja nur der Kurier. Beherzt rettet sie ihn, klaut den Wagen und ab dann, nach Slowakien, bloß zurück in die Ukraine, irgendwie. Der Gangster ist für den Film nicht mehr wichtig, denken wir nicht mehr an ihn. Für Johnny wird diese Frau zur fixen Idee, wie einst Kim Novak für James Stewart in Hitchcocks Vertigo (USA 1958). Kein Zufall wohl, dass sie später, nachdem sie Johnny um sein Geld gebracht hat und abgehauen ist, brünett statt blond, mit kurzgeschnittenem statt langem Haar, wieder auftauchr: Kaum, gar nicht eigentlich, wiederzuerkennen, schon gar nicht für Johnny, der mit der vorgeblichen Zwillingsschwester der Frau, die er irgendwo im ehemaligen Ostblock sucht, eine Affäre beginnt. Auch sie entflieht einem Leben, das wir nicht näher kennen, das ebenso leer scheint, deren traumatischen Voraussetzungen nur am Rande beiläufig erhellt werden. Und wie die unvergessliche Kim Novak wird auch sie ins Wasser springen.

Und dann Ignaz Springer (Detlef Buck). Ebenso ein Irrlicht auf den Straßen und Raststätten des wilden Ostens. Der Deutsche, der Piefke, der alles zu Geld machen will, für den alle nur in Verkäufer und Käufer einteilbar sind, der sich auf einen hirnrissigeren Tausch nach dem nächsten einlässt und Johnny, dem er immer wieder, hier und dort, begegnet, nur in Schwierigkeiten bringt. Was er nun wieder für ein Mensch ist? Keine Ahnung! Eher grobschlächtiger Unsympath, tingelt er durchs Land, mehr oder weniger kleinkriminell, ohne Ziel, Vergangenheit oder gar Zukunft. Wo er herkam, was er wollte, was er da draußen, eigentlich doch recht privilegierter, wenn auch glückloser Deutscher, zu suchen hat, wer weiß das schon. Auch er Endpunkt einer Biografie, die offenbar so wenig attraktiv ist, dass sie kaum der Rede wert, vor allem aber als Rückzugsmöglichkeit nicht denkbar scheint. Etwas besseres findet sich allemal.

Ruhig und bedächtig entfaltet sich der Film, keine Hektik, keine Eile. Wenn gleich zu Beginn der Gangster mit CS-Gas ruppig überwältigt wird, war’s das dann auch eigentlich schon fast mit Action und Aufregung. Was folgt ist ein bald melancholisches, bald heiteres Road Movie, in dem sich Menschen in der Fortbewegung entwickeln, Facetten preis geben, sich immer wieder aufs Neue miteinander konfrontiert sehen, aneinander wachsen oder aber sich auseinander leben. Momente lakonischen Humors – wenn Pichler von jungen Russen ausgeraubt wird und sich anschließend mit einem saloppen Danke verabschiedet – wechseln sich ab mit solchen höchster emotionaler Intensität, wenn Pichler etwa Janas wahrer Identität mittels ein paar alter Fotos auf die Schliche kommt oder er sich, unter enormen seelischen Druck, in die Autoaggression flüchtet. Reduziert, ja kaum wahrnehmbar fließen diese Untertöne ineinander über, werden Entwicklungen im Detail nachgezeichnet, nicht selten unter Ausblendung des wesentlichen: Wie wenn man sich anblickt und, ganz ohne Worte, weiß, was das Gegenüber denkt, ohne aber der Gefühlsduselei zu verfallen. Nicht nur Haders understatement-haft dargebotener Humor, auch seine enormen schauspielerischen Fähigkeiten sind es, die dieser Figur, bei aller lakonischen Reduktion, eine im Detail oft atemberaubend emotionale Dynamik verleihen – ein personeller Glücksgriff für Blue Moon, der – ohne Bucks oder Malektorovychs Leistungen damit gering schätzen zu wollen – doch, wie kaum ein anderer seiner bemerkenswerten Filmografie, ganz und gar Haders Film ist.

Blue Moon ist einer jener Filme, die plätschern, in denen oft alles in der Schwebe zu sein scheint, nichts ausgesprochen wird und doch unglaublich viel passiert. Einer jener Filme, denen (und deren Charakteren) man einfach immer nur weiter zuschauen möchte. Zum Ende hin ist’s wie mit einem guten Buch, das man über die Tage hinweg zu lieben gelernt hat, dessen baldiger Beschluss einen traurig macht. Man liest langsamer, legt es oft weg, will sich noch so viel wie möglich aufsparen, greift aber doch immer wieder danach, mit einem kleinen Stich in der Seite. Man verabschiedet sich nur ungern von diesen Menschen. Dieser flirrenden Atmosphäre, die zwar den Raum, nicht aber die Zeit zu kennen scheint. Von den Wolkengemälden, die diese Figuren und Abenteurer so oft umschmeicheln. Kurzum: Von diesem langsamen, schönen Film.

Blue Moon
(Österreich 2002)
Regie, Drehbuch: Andrea Maria Dusl; Kamera: Wolfgang Thaler; Schnitt: Karina Ressler, Andrea Wagner; Musik: Peter Dusl, Christian Fennesz, Yuri Naumov; Darsteller: Josef Hader, Detlef W. Buck, Victoria Malektorovych u.a.

Thomas Groh

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