Umleitung

Jeder Weg führt in den Tod. Bedächtig betrachtet der Mann den Grabstein auf dem alten Friedhof, zu dem der Blick ihn verfolgt. Doch er ist ein Niemand, einer der zahllosen Bewohner des gespenstischen Niemandslandes, in das Georgi in Sergei Loznistas „Mein Glück“ gerät. Nach elf Reportagen fantasiert der ukrainische Regisseur und Drehbuchautor ein pessimistisches Road Movie, hinter dessen grausam-bizarrer Realität sich ein surrealer Abgrund öffnet. Georgi (Viktor Nemets) ist der Weg verbaut. Die Landstraße, von der eine Wegposten den Lastwagenfahrer abbringt und der Weg, den sein Leben nehmen sollte. Der Rat einer jugendlichen Hure (Olga Shuvalova) führt ihn in ein entlegenes Dorf im ukrainischen Hinterland.

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Around the World in 14 Films – I travel because I have to, I come back because I love you

Der Geologe José begibt sich für 30 Tage ins Niemandsland der brasilianischen Wüste. Dort soll er erkunden, wie sein Arbeitgeber in dieser verlassenen Region einen Kanal bauen könnte. José wird diesen Auftrag rasch vergessen – ist er seinem Arbeitsplan zunächst einen halben Tag voraus, so hinkt er den Vorgaben bald schon fünf Tage hinterher.
I travel because I have to, I come back because I love you ist ein Road Movie – hier geht es also zuvorderst um die Erkundung des Selbst statt um die Erkundung eines möglichen Kanalbetts. José, dessen melancholische Tagebuch-Einträge wir im Voice-Over-Kommentar hören, versinkt in einer Depression. Seine Frau hat ihn verlassen, alles erinnert ihn an sie – und er weiß nicht, ob diese Reise (die er mal umgehend abbrechen und mal für immer andauern lassen will) alles nur noch schlimmer machen oder ihn ins Leben zurückführen wird. „Around the World in 14 Films – I travel because I have to, I come back because I love you“ weiterlesen

L.A., offene Stadt

„Just wrap your legs round these velvet rims / And strap your hands across my engines.” (Bruce Springsteen)

Das Automobil zählt zweifelsohne zu den bedeutendsten Fetischobjekten des Kinos. Seine Faszinationskraft lässt sich nicht bloß thematisch begründen: viel eher ist von einer strukturellen Anziehung zwischen ihm und dem kinematographischen Apparat auszugehen. Die Bewegung: der Filmstreifen, die Fahrbahnmarkierung. Der glattglänzende Lack der Oberfläche, das Grob-Motorische, Zerklüftete unter dem Lack, und schließlich: der destruktive Akt, die Verformung der Oberfläche, die Offenlegung letztlich des versteckten Maschinellen – alles erotische Momente, nachzuschlagen etwa bei Ballard/Cronenberg. Die Bewegung: das Grundfaszinosum des Kinos. Allein im Dunkel sitzen und gebannt werden – nicht von Erzählung, sondern von Bewegung. Der Traum vom Kino: von einem Leben ohne Stillstand, immer on the road und on the run. Die Objekte des Bildes, von der Photographie noch in Ewigkeit eingefroren, werden vom Filmprojektor  stetig vorangepeitscht. Wo sie selbst stillstehen mögen, wird die Welt um sie herum in Bewegung gesetzt. „Aber nicht mehr die Figuren reagieren auf die optisch-akustischen Situationen, sondern die Bewegung der Welt tritt an die Stelle der zurücktretenden Bewegung der Figur.“ (Gilles Deleuze) Weil es auf eine grundlegende Sehnsucht des modernen Menschen zu antworten weiß – die Sehnsucht, es möge immer irgendeine Richtung geben, in die es weiterzugehen gilt –, muss die Beziehung des Menschen zum Kino als eine amour fou betrachtet werden.

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Der Mann ohne Vergangenheit

Blue Moon, Österreich 2002, Andrea Maria Dusl

Man hätte diesen Film auch ganz anders inszenieren können: Ein Mann, von dessen Vergangenheit wir wenig – ja gar nichts, eigentlich – wissen, verbockt eine Geldübergabe, deren Hintergründe wir nicht kennen. Eine so schöne wie geheimnisvolle Frau rettet ihn aus dieser misslichen Situation, dem folgt eine Irrfahrt quer über den (ost-)europäischen Kontinent, an deren Ende es doch nur noch um eine Sache gehen kann: Dass beide sich, wie auch immer, kriegen. Man hätte ein Genre-Einerlei draus machen können, mit etwas Action hier und da, mit etwas behaupteter Dramatik und Sentiment. Einen Film wie viele andere auch: Schnell gedreht, gesehen, vergessen. Regisseurin Andrea Maria Dusl hat sich anders entschieden. Zum Glück. „Der Mann ohne Vergangenheit“ weiterlesen