der flug des phoenix

„Enter,“ lädt eine riesige Leuchtreklame gegenüber von Oscars (Nathaniel Brown) winzigem Appartement in Tokio ein. Doch wohin? Oscar kommt der unbestimmten Einladung trotzdem gern nach – meist unter Zuhilfenahme von Drogen – und landet im „The Void“, einer finsteren Kneipe, in der er bei einer Polizeirazzia erschossen wird. Zurück lässt er seine jüngere Schwester Linda (Paz de la Huerta), zu der er seit dem Unfalltod der Eltern eine enge Beziehung pflegt und seinen Freund Alex (Cyril Roy), der Oscar mit dem tibetanischen „Buch der Toten“ und dem Gedanken der Reinkarnation vertraut gemacht hatte. Beider Wege verfolgt Oscar im Verlauf von „Enter the Void“ als unsterbliche, immaterielle Entität auf der Suche nach dem für eine Wiedergeburt geeigneten Körper …

Nachdem Noë 2002 mit „Irreversible“, einem in nur wenigen komplett ohne Schnitt auskommenden Szenen und darüber hinaus rückwärts erzählten Film, für einiges Aufsehen gesorgt hatte – zu dem eine rund zehn Minuten lange Vergewaltigungsszene entscheidend beitrug –, dauerte es sieben Jahre, bis die Finanzierung für sein nächstes, kaum weniger ambitioniertes Projekt stand. „Enter the Void“ verlässt während seiner rund 160 Minuten niemals die subjektive Perspektive seiner Hauptfigur – auch nicht, nachdem diese einen gewaltsamen Tod findet.

Nach der 40-minütigen Exposition, in der der Zuschauer Oscar bis zu seiner Erschießung begleitet, läuft der berühmte Lebensfilm ab, der die wichtigsten Stationen von Oscars irdischer Existenz Revue passieren lässt und vor allem über das Schicksal von ihm und Linda aufklärt. Danach verlässt der Film festen Boden, begibt sich mit Oscars Seele in die Vogelperspektive und folgt den anderen Figuren, die trotz des Schicksalsschlages irgendwie weitermachen müssen. Die Beschreibungen aus dem „Buch der Toten“ erweisen sich dabei allesamt als zutreffend: Lichter dienen Oscar als Tore, die er betritt, um sich fortzubewegen, bis er am Ende in einem Love Hotel landet, einem Etablissement, in das sich paarungsbereite Japaner mit ihren Partnern zum Sex zurückziehen. Auch Linda und Alex hat das Schicksal hier zusammengeführt und ein warmes Licht lädt Oscar ein, in den Leib der Schwester einzudringen, um von ihr wiedergeboren zu werden.

Die Beschreibung lässt es vielleicht schon erkennen: „Enter the Void“ ist trotz seiner schwerelosen Hauptfigur ein reichlich konzeptschwerer Film. Seine Handlung folgt der zugrunde liegenden visuellen Idee und nicht anders herum und das lässt die Narration noch stärker hinter die Form zurücktreten als das schon bei „Irreversible“ der Fall war. Das nächtliche Tokio als Handlungsort bietet in erster Linie die licht- und kontrastreiche sowie farbintensive Kulisse, die einem Film, der die Analogie „Todeserfahrung = Drogenrausch“ aufbaut, entgegenkommt. Und Oscar, ein junger von Drogen begeisterter junger Mann ohne klare Ziele, scheint eher wie von Zauberhand dorthin geführt zu sein, als dass seine Präsenz dort wirklich nachvollziehbar wäre.

Unter anderer Regie wäre „Enter the Void“ durchaus Gefahr gelaufen zur spät-pubertären, pseudospirituellen Drogenverherrlichung zu missraten, doch Noë ist es wie schon in „Irreversible“ gelungen, sich von den beengenden Fesseln des Konzepts zu befreien und auf wundersamen Irrwegen bis ins Herz des Betrachters vorzustoßen. Der identifiziert sich mit dem nur wenig charakterisierten Protagonisten nur aufgrund der mit ihm geteilten Perspektive, die sein Streben, seine Träume und seine Liebe stärker verdeutlicht, als gewöhnliche Narration dies leisten könnte. Die opulente Spielzeit vergeht so sprichwörtlich wie im Flug und überdauert diese noch, weil das Finale so vielseitig deutbar ist wie der größte Film von Noës Lieblingsregisseur Kubrick, „2001: Odyssee im Weltraum“.

Natürlich erschließt sich ein Film, der auf einer visuellen Idee aufbaut, vor allem über die Bilder: Es ist nur konsequent, dass „Enter the Void“ nach der erneut fulminanten Credit-Sequenz, die allein schon einen sehenswerten Clip abgäbe, einen fünfminütigen CGI-animierten Drogenrausch folgen lässt, um den Zuschauer auf die folgenden Ereignisse vorzubereiten. Tokio aus der Vogelperspektive, ein markerschütternder Autounfall oder eine aus dem Inneren eines Frauenleibes beobachtete Ejakulation sind nur einige besonders spektakuläre Schlaglichter in einem visuell durchweg aufregenden Film, der die somatische Erfahrung von „Irreversible“ allerdings nicht wiederholen kann.

Enter the Void
(Frankreich/Deutschland/Italien 2009)
Regie: Gaspar Noë; Drehbuch: Gaspar Noë, Lucile Hadzihalilovic; Musik: Thomas Bangalter; Kamera: Benoît Debie; Schnitt: Marc Boucrot, Gaspar Noë
Darsteller: Nathaniel Brown, Paz de la Huerta, Cyril Roy, Olly Alexander, Masato Tanno
Länge: 156 Minuten
Verleih: Capelight

Zur DVD von Capelight

Capelight präsentieren „Enter the Void“ als 3-Disc-Special-Edition, die sowohl die DVD als auch die Blu-ray-Disc enthält. Der Rezension liegt eine DVD-Fassung zugrunde, an der es technisch nichts zu bemängeln gibt, die aber laut Capelight rund 9 Minuten kürzer als die Blu-ray-Fassung ist.

Bild: 2,35:1
Ton: Deutsch (DTS-HD Master Audio 5.1), Englisch, Japanisch (DTS-HD Master Audio 5.1)
Untertitel: keine
Extras: keine Angabe
Freigabe: FSK 18
Preis: 28,99 Euro

Die Special Edition bei Amazon kaufen.

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.