Brustkorb und Helm

Wenn man nur lang genug schweigt, wird man irgendwann zum Visionär. Philip Ridley hat 14 Jahre lang geschwiegen – nun ja, nicht wirklich geschwiegen, lediglich auf die Kinoleinwand fand keine seiner Ideen mehr seit den Mitt-90ern. Dabei hatte er mit „The Reflecting Skin“ und „The Passion of Darkly Noon“ zwei schrecklich schöne, phantasievolle, dunkle und originelle Filme gedreht, die auf ganz eigentümliche Weise zwischen Genreerzählung und adoleszentem Fiebertraum oszillierten. Nach langer Schaffenspause legt Ridley nun mit dem faustischen Horrorfilm „Heartless“ seinen erst dritten Film vor, und scheitert dabei höchstens an den zu hohen Erwartungen.

„Heartless“ schreibt sich zunächst einmal ein in eine Traditionslinie des sozialrealistischen Horrorfilms, die in jüngerer Zeit auch Filme wie Walter Salles’ J-Horror-Remake „Dark Water“ oder Johnny Kevorkians Ghetto-Geisterfilm „The Disappeared“ bedienten. Die Geschichte des durch ein herzförmiges Muttermal im Gesicht entstellten Jamie (Jim Sturgess) ist verortet in einem von Gangs terrorisierten Londoner Ghetto, in einer dunkelglitzernden, nächtlichen Großstadtwelt. Schon die ersten Einstellungen zeigen die magischen Skylines einer Megacity, und lassen dabei kaum Zweifel daran, dass in ihren Straßen, tief unten zwischen den Hochhäuserschluchten, Magisches sich ereignen muss. Der Film sieht diese urbane Geisterwelt durch die Augen des verschlossenen Jamie, der meist eilig und mit gesenktem Kopf durch die Straßen zieht und die Fremdheit der Stadt durch die Linse seiner Fotokamera bestaunt. Und in Jamies Augen sind die Gangs nicht einfach nur Gangs, sondern dämonische Erscheinungen mit grausig verzerrten Fratzen.

In dieser feindlichen Umwelt verzehrt sich Jamie vor allem vor Sehnsucht nach Liebe und einer konservativen Familienidylle – ein Wunsch, der dem äußerlich und innerlich Gezeichneten unerfüllbar scheint. Nachdem seine Mutter brutal ermordet wird und er auf den mephistophelischen Papa B trifft, geht er einen Pakt mit dem Teufel ein: Im Austausch für die Erlösung vom Stigma seines Muttermals soll Jamie einen kleinen Beitrag zum großen teuflischen Plan leisten. Aus dem verschwindend winzigen Part wird dann aber doch schnell eine diabolischere Aufgabe, die er zu erfüllen hat – schließlich hat Jamie mit dem Teufel gehandelt, und selbstverständlich lügt und betrügt der ihn. Anders als der Goethe’sche Mephistopheles ist Papa B, in einer Welt, die all ihre Gleichgewichte längst verloren hat, nicht mehr an seine Vertragswerke gebunden, und so wird Jamie schnell und notgedrungen zum bestialischen Ritualmörder. Um seine knospende Beziehung zur schönen Tia (Clémence Poésy) zu retten, die er an seine neuerworbene äußerliche Schönheit gebunden sieht, scheint Jamie bereit, seine innere Menschlichkeit preiszugeben.

Die Welt, die Ridley in „Heartless“ beschreibt, ist vielleicht nur noch oberflächlich die des Goethe’schen Faust – eher kommt hier die selbstzerstörerische, solipsistische Phantasmagorie in den Sinn, die der nahezu vergessene Postdramatiker Werner Schwab in seiner Variation auf den deutschen Überklassiker halluzinierte. „Faust : Mein Brustkorb :: Mein Helm“, das war die Verlegung in das monomanische „Studierzimmergehirn“ des faustischen Menschen, und dieser literarischen Wendung nach Innen entspricht die filmische Bewegung vom Horrorkino zum von Thomas Elsaesser so getauften mindgame movie. Da liegt freilich auch der angreifbare Punkt von „Heartless“, denn so wie bei Schwab von Herz und Hirn, den grundlegenden Antipoden des mystischen vs. rationalen Weltbildes, nur noch Brustkorb und Helm, äußerliche Schutzpanzer also, übrigbleiben, scheint auch Ridley der durch seinen Stoff nahegelegten halluzinatorischen Weltsicht nicht so recht zu trauen, sondern flüchtet sich am Ende doch wieder in prosaisches Genrekino. Leider, denn dies hätte er ob des literarischen wie filmischen Anspielungsreichtums seines Stoffes gar nicht nötig gehabt.

Klar ist von Beginn an, dass es hier um die Inszenierung einer apokalyptischen Perspektive auf eine aus den Fugen geratende Welt geht, um die Frage, wie viel Jamie von seiner Menschlichkeit preiszugeben bereit ist, um das zu erlangen, was er sich unter einem erfüllten Leben vorstellt. Vielleicht auch, und auch das ist im Stoff angelegt, wie leicht sich diese Vorstellung als eine schöne Lüge entpuppen kann. Und, nicht zuletzt, wie ein solches Leben zu führen wäre, als Schlemihl nach dem Verkauf seines Schattens, der – wie passend! – sein Auge verdunkelte. Klar ist somit auch, dass es um eines hier nicht gehen kann: Um die fein säuberliche Trennung zwischen Realität und Täuschung, um die wahnhafte Wahrnehmung eines pathologischen Einzelgängers. Zu dumm, dass Ridley dann auf den letzten Metern seines atmosphärischen und assoziativen Films all diese Fehler macht und seinen ungeheuer reichen Stoff verengt zur bloßen Genreerzählung. Ein weiteres mindgame movie, nichts weiter – schließlich stellt auch dies nur die in Stereotypen eingefrorene Genreform der ebenfalls bei Elsaesser formulierten freieren Idee eines post-mortem-Kinos dar; eines Kinos, das zwar ebenfalls die Genreerzählung als Fluchtpunkt etabliert, das aber von einer grundsätzlicheren Verstörung kündet; eines gebrocheneren Kinos, das sich weniger im Spielerischen erschöpft.

Dass Philip Ridley ein ungeheuer begabter Filmemacher ist – daran kann auch nach „Heartless“ kein Zweifel bestehen. Das letztliche Scheitern des Films liegt aber leider darin begründet, dass er aus vergleichsweise großen Potenzialen vergleichsweise wenig macht. Kein großer Wurf, nur ein stimmungsvoller Fantasyhorror-Mindfuckstreifen, der – wie auch schon der ähnlich interessante „The Disappeared“ zuvor, von einer unnötig eineindeutig ausformulierten Auflösung abgewertet wird. Wenn Philip Ridley hier geschwiegen hätte, wäre er ein Visionär geblieben.

Heartless
(UK 2009)
Regie & Buch: Philip Ridley; Kamera: Matt Grayi; Schnitt: Chris Gill, Paul Knight; Musik: David Julyan
Darsteller: Jim Sturgess, Clémence Poésy, Joseph Mawle, Noel Clarke, Timothy Spall, Eddie Marsan, Ruth Sheen u. a.
Länge: ca. 114 Minuten
Kinostart: 15.07.2010

Dieser Text ist erstmals erschienen in Splatting Image Nr. 82.

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