Berlinale 2011 – Holt den Vorschlaghammer raus

„Medianeras“ ist einer jener Filme, die all das Mittelmaß, dem man auf einer Berlinale begegnet, vergessen lassen – ein Werk, das all die auf der Suche nach Festivalperlen erlebte Langeweile ausgleicht. In „Medianeras“ geht es um Einsamkeit, urbane Anonymität, Depressionen, Phobien und Selbstzweifel. Der argentinische Regisseur Gustavo Taretto vollbringt das kleine Wunder, diesen bedrückenden Themen enorm viel Humor abzugewinnen und ihnen dennoch in die Tiefe nachzuspüren. Sein Film nimmt die Figuren in ihrem Leid ernst und lacht verzweifelt mit ihnen statt über sie. „Medianeras“ beginnt mit einer grandiosen Collage der Architektur von Buenos Aires und fragt nach den Auswirkungen dieses Stadtbilds auf das menschliche Befinden. Wie in so vielen Metropolen, wachsen auch hier die Glas-und-Metalltürme in den Himmel, kanalisieren den Wind und verbannen die Sonne aus den Straßen. Diese ‚modernen‘ Gebäude sind grau oder weiß, auf jeden Fall aber furchtbar kalt und anonym. Der Berlinale-Besucher kennt dergleichen vom unwirtlichen Potsdamer Platz.

In diesen Gebäuden, in denen man wohnen, aber nicht leben kann, begegnen wir Martin (Javier Drolas) und Mariana (Pilar López de Ayala) – beide sind jung, gebildet, attraktiv und ziemlich einsam. In entwaffnend traurigen Szenen sehen wir, wie Mariana eine männliche Schaufensterpuppe wäscht, mit ihr redet und schläft. Außerdem lässt sie die kleinen Luftbläschen gepolsterter Verpackungen platzen, damit sie – wie sie sagt – nicht selber platzt. Martin ist ein IT-Experte, dem seine Arbeit als Homepage-Designer ermöglicht, seine Agoraphobie auszuleben und das Haus kaum verlassen zu müssen. Martin lebt eher im Internet als in der realen Welt, sein einziger Lebensgefährte ist ein Hund, der von einer Fremden gegen Bezahlung ausgeführt wird, damit Martin in seinen vier Wänden bleiben kann. Diese Wände haben fast keine Fenster und der Mangel an Licht ist nicht unbedingt hilfreich, wenn man sich inmitten der urbanen Massen einsam und verlassen fühlt.

Mariana und Martin sind zwei Großstädter, die sich nicht kennen, einander aber unbedingt kennen lernen sollten. Beide leben nur wenige Meter von einander entfernt, laufen sich immer wieder zufällig über den Weg und verpassen einander dennoch. Gustavo Tarettos ebenso kluger wie amüsanter Film nutzt diese Grundsituation für eine Meditation über Zufall und Schicksal sowie die Rolle der Technik im menschlichen Leben des 21. Jahrhunderts. Kabel durchziehen die Bilder in vielen Szenen – sie verbinden die Menschen und halten sie zugleich auf Distanz zu einander. Telefon, E-Mail und Chat ermöglichen Mariana und Martin, mit anderen, neuen Menschen in Verbindung zu treten, machen aber gleichzeitig ein persönliches Treffen oftmals überflüssig. Und so fängt Kameramann Leandro Martínez nicht nur die Verbindungskabel, sondern auch die Mauern und Trennwände immer wieder ein, hinter denen wir uns vor Mitmenschen verstecken. Die Angst, demaskiert zu werden, und die Sehnsucht, erkannt zu werden, treten in einen Widerstreit, der nie restlos gelöst werden kann. Erst als der Strom ausfällt und alle Technik still steht, scheint das Chaos der Post-Moderne sich zu entwirren.

„Medianeras“ besticht nicht allein durch seine tiefgründige und zugleich komödiantische Erzählweise, sondern auch durch seinen stilistischen Esprit. Der Film entwickelt durch seine kontrastreiche Montage einen spielerischen Bildwitz, wenn er die architektonischen Texturen der Stadt erkundet. Auch die Einbindung von Animationen in die photographischen Bilder ist eine ziemlich gelungene visuelle Innovation. Jene Verbindung aus einem durchdachten Drehbuch und vielen technischen Raffinessen macht diesen kleinen Film zu einer großen Entdeckung und – das ist keine Übertreibung – zur Messlatte für künftige filmische Untersuchungen von Urbanität im Zeitalter des Internets.

Medianeras
(ARG 2011)
Regie: Gustavo Taretto; Drehbuch: Gustavo Taretto; Kamera: Leandro Martinez; Schnitt: Pablo Mari, Rosario Suarez; Musik: Gabriel Chwojnik; Darsteller: Pilar López de Ayala, Javier Drolas;
Länge: 91 Min.
Verleih: The Match Factory

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