Kampagne

 Ein Fallschirmkandidat ist einer, der im Wahlkampf für einen Posten einspringt, der in letzter Sekunde frei geworden ist. Der Tokioter Yamauchi Kazuhiko beispielsweise: In Kawasaki herrscht Wahlkampf und die Liberale Demokratische Partei hat keinen Kandidaten organisieren können. Politisch so unerfahren wie unbeholfen zieht er binnen kürzester Zeit samt Gattin in die neue Stadt. Sein Studienfreund Kazuhiro Soda, der Regisseur des Films, nutzt die Chance – und drehte einen Dokumentarfilm über den teils haarsträubenden Wahlkampf: Campaign.

Zwischen Irrsinn und menschlicher Tragödie scheint in diesem ungemein dicht gefilmten Dokument alles möglich: Yamauchi Kazuhiko stresst sich menschenmöglichst – und erhält dennoch Tadel von den „sensei“, den Parteioberen, die seinen Wahlkampf von der Warte herab steuern, kaum zu glauben ist der Elan, mit der der eigentlich gar nicht mehr so junge – immerhin 40 Jahre alte – Kandidat ausnahmslos jedem Menschen auf der Straße die Hände schüttelt und finanziell seine ganze Existenz aufs Spiel setzt. Am Abend bleibt der Gang in die eigene Wohnung, die trostlos eingerichtet ist: Mit seiner Gattin teilt er sich geschätzte 12 Quadratmeter.

Man kann das Forum für Dokumentarfilme solcher Art eigentlich nicht genug preisen: Mit erstaunlicher Konsequenz und Beharrlichkeit bugsiert die Sektion alljährlich mindestens einen höchstspannenden asiatischen Dokumentarfilm in sein Programm, der ungeahnte Ansichten der alltäglichen Welt des fernen Kontinents ermöglicht. War es im letzten Jahr Dear Pyongyang, so gestattet nun Campaign diese ganz eigene Erfahrung. „And it’s funny“, sagt der (ungemein sympathische) Regisseur vor der Vorführung, „so you can laugh, it’s a movie!“

Thomas Groh

Eine Antwort auf „Kampagne“

  1. Das Lob für das Forum: man kann sich nicht genug anschließen. Zumal es in diesem Jahr mit dem neuen Film von Frederick Wiseman noch einen zweiten, ganz anders gearteten Beitrag zum Parlamentarismus gab, der nachdenklich stimmt.

    Die Darstellung von CAMPAIGN würde ich noch weitertreiben, noch genauer machen. Weil der Film auch eine verdeckte Geschichte erzählt, von einem Mann, der sich in einem Sozialsystem (seiner Partei, aber auch der Stadt, in der er kandidiert) exponiert, daß die Fremdheit, die einen europäischen Betrachter erfaßt, kaum größer sein könnte. Mit einer geradezu jungenhaften Energie hebt's an, auf einer menschenleeren Bahnhofsstation, der Umschnitt vom Wahlredner auf den Raum, in dem man Adressaten vermutet hätte, erweist sich als leer. Da versucht einer mit Macht, sich selbst darzustellen, sich anzupreisen, sich attraktiv und glaubhaft zu machen – und keiner guckt hin. Dabei ist er höflich und schüchtern, manch kleine Szene zeigt den Kandidaten, der "unter" der Rolle als Politkandidat und Macher verborgen wird. Der emotionale Aufwand des Kandidaten scheint irrwitzig zu sein – und es wundert nicht, daß sein Gestus immer mehr zur Maske wird, das Lächeln verliert seine Herzlichkeit, die Augen sind nicht mehr wach. Der Kandidat erstarrt, wird hohl – und nun übernimmt seine Frau, die bislang ganz im Hintergrund gestanden hat, viel größere Zentralität, sie bewahrt eine schüchterne Herzlichkeit, die gegenüber der nur noch Larve erscheinenden Figur des Mannes als das emotionale Zentrum.

    Der Film erzählt auch eine "success story" – mit knapper Mehrheit erringt der Kandidat den Posten im Stadt-Parlament. Er schien schon resigniert zu haben, war zu Hause, nicht in der Partei-Zentrale. Er ist erschöpft. Ist er auch glücklich? Den Dank an die Parteigenossen, das Versprechen, daß er sich loyal verhalten wird: All dieses muß ausgesprochen werden, und der Kandidat tut es, als belle er militärische Befehle aus sich heraus. Emotional belegte Äußerungen, in einem Tonfall vorgetragen, der eher auf Kasernenhof denn auf zwischenmenschliche Begegnung hindeutet (das haben wir in vielen anderen japanischen Filmen auch gesehen, einer der Gründe, warum uns das Janpanische so fremd vorkommt): All dieses deutet auf ein Polit- und Sozialsystem hin, das den Wahlkampf als Sozialisationsinstanz nutzt, als Durchgang nicht nur zu den politischen Ämtern, sondern auch zu einer Grenz- oder Erschöpfungserfahrung. Wahlkämpfe als Durchgangsriten? Völlige Erschöpfung als Zugang zum Politikersein? Als Domestifikation einer Motivation, die am Anfang hoch und naiv-ehrlich gemeint war? Als Mittel, den Kandidaten in die Parteidisziplin einzubinden? Die zweite Geschichte des Films – der Wandel des Mannes im Zentrum. Sie erzeugt Irritation – und mehr kann ein Dokumentarfilm nicht leisten. It's funny! Aber es hat auch mit der Realität zu tun.

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