Ed Crane (Billy Bob Thornton) arbeitet als Barbier in einer amerikanischen Kleinstadt, in the middle of nowhere, dort, wo die Zeit stehen geblieben ist. Man schreibt das Jahr 1949, zeitgenössisch brisante Themen werden im Friseursalon debattiert, um das Gespräch am Laufen zu halten. »Die Russen haben eine Atombombe gebaut«, sagt ein Kunde eher beiläufig.
Der Schwarzweiß-Film The Man Who Wasn’t There (USA 2001) ist die Quintessenz im bisherigen Werk der Gebrüder Joel und Ethan Coen. Oder einfach nur ein »ganz typischer« Coen-Film, was von Kritikern bei der Premiere auf dem Filmfestival von Cannes dann auch bemängelt wurde. Motive, Figuren, Stilistiken aus ihren anderen Filmen finden hier wieder zusammen. Ed Crane ist einer jener Außenseiter, die uns, dem Zuschauer, bereits häufig im Coen-Universum begegnet sind. Weitere Vertreter der seltsamen Art: der ewige Hippie Jeff Lebowski (The Big Lebowski, USA 1997), der unkreative Schriftsteller Barton Fink (Barton Fink, USA 1991) oder der linkische Autohändler Jerry Lundegaard (Fargo, USA 1995). Alle sind gesellschaftliche Underdogs, unfähig auf Dauer in Beziehung zu anderen Individuen zu treten und sich ins soziale Gefüge zu integrieren. Wenn es eine Hauptstraße des Lebens gäbe, fände man die skurrilen Coen-Schöpfungen auf einer holprigen Nebenstraße, wo sie sich unbemerkt von der Öffentlichkeit eingerichtet haben. Sie sind keine Berühmtheiten oder Helden, auch der Autor Barton Fink erweist sich nach seinem erfolgreichen Debüt am Broadway als klassische Eintagsfliege, dem es nicht gelingt, ein Drehbuch für einen Hollywood-Produzenten zu schreiben. Die Coen-Protagonisten sind meist Anti-Helden, geborene Verlierer, erstarrt in völliger Passivität. Und nehmen sie ihr Schicksal doch einmal selbst in die Hand (siehe Jerry Lundegaard), geht alles gründlich schief, eine Kettenreaktion unglücklicher Ereignisse nimmt ihren Lauf.
Es ist kaum verwunderlich, dass sich die Coen-Brüder so gern aus dem Fundus des Film noir und der Hard Boiled-Fiction der 30er und 40er Jahre bedienen. Die Coen- Protagonisten ähneln den Anti-Helden aus den Büchern James M. Cains, Dashiell Hammetts oder Raymond Chandlers und deren Verfilmungen. Auch diese geben sich wortkarg und scheren sich nicht um ihre Umwelt. Einzige Unterschiede: Sie sind cooler, lässiger und auch geschickter im Umgang mit Frauen. Eine Figur wie Ed Crane ironisiert Vorbilder wie die Privatdetektive Sam Spade (Hammetts Die Spur des Falken) und Philip Marlowe (Chandlers Der tiefe Schlaf), in den Verfilmungen von Humphrey Bogart verkörpert. Äußerlich weckt Billy Bob Thornton als Ed Crane Assoziationen zu Bogart und dessen Epigonen, mehr aber nicht. Die Coens verkehren die Vorbilder ins Gegenteil: Crane ist nicht Privatdetektiv, sondern Barbier. Er hat zwar eine Frau, doch die betrügt ihn. Als er ihren Liebhaber ermordet, ist es ihm nicht einmal vergönnt, die Strafe dafür abzusitzen. Die Spur führt zu seiner Frau, die für seine Tat ins Gefängnis kommt. Niemand interessiert sich für Ed Crane. Wie ein Unsichtbarer bewegt er sich durch die Geschichte. Einzig der Filmzuschauer nimmt Kenntnis von Crane, weil er sich im Off-Kommentar, ein Stilmittel des Film Noir, mitteilt. Paradoxerweise spricht Crane im Voice-Over unentwegt, während er im Film schweigt. So ist es komisch, wenn er sich nach einem längeren Wortschwall vorstellt: „Ich, ich rede nicht viel. Ich schneide nur die Haare.»
Coen-Filme sind sehenswert, weil die Coens sich wirklich für ihre Figuren interessieren. Meist erfinden sie zuerst ihre merkwürdigen Charaktere und basteln später einen Plot dazu. Im Gespräch mit Peter Körte offenbart Joel Coen: »Es war vor allem die Arbeit an den Figuren von Dude und Walter, die den Film für uns ins Rollen gebracht hat, die so etwas wie ein Auslöser war.« (Körte/Seeßlen, 1998: 8). Die Aussage bezieht sich auf The Big Lebowski.) Die Geschichten der Coens sind nie spektakulär, und wenn jemand entführt wird, wird dies äußerst unspektakulär und augenzwinkernd erzählt. Die Szenen werden von den skurrilen Figuren beherrscht und zusammengeschweißt. Schon kurz, nachdem man einen Coen-Film gesehen hat, fällt es schwer, die Handlung wiederzugeben. Relativ genau erinnert man sich aber an die Personen der Geschichte und an einzelne Situationen, die ihnen widerfahren sind. Wer an Fargo denkt, sieht zuerst die hochschwangere Dorfpolizistin Marge Gunderson und die beiden schießwütigen Killer Carl und Gaer vor sich. Eine einprägsame Fargo-Szene: Gaer entsorgt Carl im Häcksler. Als Marge ihn stellt, ist nur noch Carls Bein übrig.
Dass die Charaktere einen so nachhaltigen Eindruck beim Zuschauer hinterlassen, liegt zumeist an ihren Darstellern. Die Coens sind echte Besetzungskünstler. Darsteller und Rolle verschmelzen zu einer Einheit. Letzterer Satz ist eine gern verwendete Phrase in der Filmkritik, trifft aber auf die Schauspieler in den Coen-Filmen vollends zu. In einigen Fällen haben die Coens bereits beim Schreiben einen bestimmten Schauspieler im Sinn, der dann von ihnen engagiert wird.
Jeff »The Dude« Lebowski (Jeff Bridges) ist einer der schönsten Coen-Kreationen überhaupt. So faul wie der »Dude« ist kein Mensch. Er ist ein Gammler, ein Parasit, der sich durchs Leben schmarotzt. Und doch bzw. deshalb ist Lebowski so sympathisch, in einigen Szenen sogar cool. Wie er, den andere wohl als sozialen Abfall betrachten würden, auch die prekärsten Situationen meistert, ist einmalig. »Dude« entschärft mit seinem entwaffnenden, trockenen Humor eigentlich brutale Szenen. Gleich zu Beginn wird Lebowski in seiner Wohnung von zwei Männern überfallen, die ihm erklären, die Schulden seiner Frau eintreiben zu wollen. Eine folgenschwere Verwechslung, denn einer wie der Dude ist nicht verheiratet. Um ihr Ziel zu erreichen, tauchen sie »Dudes« Kopf mehrfach in eine Kloschüssel. In einem Martin-Scorsese-Film wäre diese Form der Gewalt bis zur Unerträglichkeit eskaliert (man denke nur an die »Schraubstock«-Sequenz in Casino, USA 1995). Bei den Coens werden gewalttätige Szenen persifliert. Als die Einbrecher nach dem Verbleib des Geldes fragen, bittet »Dude«, noch mal in der Kloschüssel nachsehen zu dürfen. Die Coens brechen mit den Erwartungen der Zuschauer, indem sie solch eine Szene humoristisch auflösen. Gewalt wird in The Big Lebowski nie glorifiziert, sondern bis zur Groteske übersteigert. Dudes Bowling-Freund Walter (vom White Trash-erfahrenen John Goodman dargestellt) ist als Gegenpart zum Dude angelegt. Wenn »Dude« teilnahmslos das Geschehene erträgt, ergreift der einstige Vietnam-Veteran Walter die Initiative. Walter ist ein »Best of« eines stetig wiederkehrenden Charakters im amerikanische Film, dem traumatisierten Vietnam-Soldaten. Seitdem der Vietnamkrieg 1975 beendet wurde, tobt er in filmischen Horror-Szenarien auf der Leinwand weiter. Häufiges Thema: Dem Kriegsheimkehrer aus Vietnam wird nach seiner Rückkehr in die USA der Zutritt in die zivilisierte amerikanische Gesellschaft verwehrt. Spätestens seit First Blood (USA 1982) ist dieser spezielle Filmtypus auch eine Action-Ikone im Kino geworden. John Rambo (Sylvester Stallone) setzt genau wie Walter in The Big Lebowski seinen Privatkrieg auf heimischen Boden fort. Beide haben sich nicht damit abgefunden, dass der Krieg längst vorbei ist. In ihrem Bewusstsein ist er noch existent., einen Alltag gibt es nicht mehr. So brennt Walter förmlich darauf, endlich wieder einen »Einsatz« zu bekommen, in welchem er seine Kampfkünste unter Beweis stellen kann. Er kann es kaum erwarten, die Typen, die auf Dudes Teppich urinierten, fertig zu machen. Ein anderes Mal zieht er die Waffe, als ein Freund sich beim Bowling regelwidrig verhält. Der Zuschauer merkt schon früh in The Big Lebowski, das bei Walter „eine Schraube locker ist». Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die angestauten Aggressionen ausbrechen und Walter »Krieg führt«. Im normalen Leben ist Walter ein »Loser«, abgeschoben aufs Abstellgleis der Gesellschaft. Er arbeitet als Sicherheitsexperte, Höhepunkt seines trostlosen Daseins ist das Bowlen mit den Freunden. Er entspricht dem Täterprofil eines Amokläufers: unbemerkt von der Öffentlichkeit bis zu jenem Augenblick, an dem er »ausrastet«.
Die Coens sind mit der amerikanischen Kinogeschichte bestens vertraut und haben Walter mit allerlei Eigenschaften anderer filmischer Kriegsveteranen ausgestattet, beispielsweise der patriotischen Attitüde oder dem Erzählen gesammelter Kriegserfahrungen. Walter ist ein sehr penetranter Mensch, mit einer Vorliebe für große Gesten. Zu den gelungensten Szenen in The Big Lebowski gehört jene, in welcher der »Dude« und Walter ihrem verstorbenen Freund Donny die letzte Ehre erweisen. Walter hält eine große Rede. Der Dude steht desinteressiert daneben. Dann öffnet Walter die Urne, und weil der Wind ungünstig steht, fliegen Donnys sterbliche Überreste dem Dude direkt ins Gesicht. Dude verzeiht keine Miene.
Doch obwohl Walter eine Karikatur ist, geben die Coens ihn nicht vollständig der Lächerlichkeit Preis. Er dient nicht als bloßer Selbstzweck für eventuelle Lacher des Kinopublikums. Dies gilt für alle Schöpfungen im Coen-Kosmos: Die Coens verraten ihre Charaktere nicht, sondern geben ihnen bei all den Referenzen auf andere Filmhelden ein Eigenleben. Anders als z. B. bei deutschen Filmen wie Knockin’ On Heaven’s Door (D 1997), in der die beiden Killer Henk und Abdul mit ihrem eigentümlichen Dialekt für Frohsinn beim Zuschauer sorgen sollen. Mehr aber auch nicht.
Coen-Charaktere sind eigentlich klassische Nebenfiguren. In anderen Plots würden sie wahrscheinlich kurz durchs Bild laufen oder vom Helden verprügelt bzw. kurzerhand erschossen werden. Der Reiz der Coen-Geschichten besteht darin, dass man als Zuschauer die Möglichkeit erhält, dass Leben dieser Underdogs für eine kurze Zeit zu beobachten. Es gibt wenige Regisseure, die den vermeintlichen »Spinnern« soviel Erzählraum zugestehen, wie die Coens das tun. Ein Seelenverwandter ist der Regisseur Sam Raimi (The Evil Dead, USA 1982), ein alter Freund der Coens, der auch bei ihrem Hudsucker (USA 1994) am Drehbuch mitschrieb. Raimis Thriller A Simple Plan (USA 1998) erinnert in seiner Handlungsstruktur an die Coen-Werke. Drei Männer entdecken in einem entlegenen Waldgebiet ein Flugzeugwrack, in welchem sie 4,4 Millionen Dollar finden. Ihr einfacher Plan: Sie behalten das Geld einstweilen und wenn sich kein Besitzer meldet, teilen sie es auf. Dank Neid und Missgunst der drei Finder entwickelt sich ihr Plan zu einem Fiasko, das in einer Blutorgie kulminiert. Der Film wurde seinerzeit von Kritikern gern mit Fargo verglichen und in der Tat haben die Filme außer der Schneelandschaft einiges gemeinsam. In beiden Filmen steht zu Beginn eine recht schlichte Idee, die zu vielen kleinen Ereignissen führt, welche die Beteiligten bald nicht mehr kontrollieren können, weil sie es nicht gewohnt sind, mit Extremsituationen wie der Vertuschung eines Mordes umzugehen. Sie sind eben normale Menschen und keine Profi-Gangster. Das Motiv ist in beiden Fällen Habgier. Doch anders als bei Fargo schlägt die Geschichte von Ein einfacher Plan nicht ins Komische um.
A Simple Plan ist einer der zynischsten Werke im Oevre Raimis. Andere Filme des Regisseurs sind wesentlich humorvoller gestaltet. Spätestens seit Evil Dead II – Dead by Dawn (USA 1987) wird dies offensichtlich: Der Protagonist Ash (Bruce Campbell) führt einen Kampf mit der eigenen von einem Dämon besessenen Hand, die er wenig später triumphierend abhackt. Genau wie die Coen-Brüder hat Raimi ein Faible für Außenseiter. Trotz seines ungeschickten Auftretens ist Ash der einzige, der den Horror in der Evil Dead-Trilogie überlebt. Die Coens arbeiteten bereits sehr früh in ihrer Karriere mit Raimi zusammen. Gemeinsam schrieben sie das Buch zu Crimewave (USA 1985), der von Raimi inszeniert wurde. Während aber Raimi seit Spiderman (USA 2002) kommerziellere Wege beschreitet, bleiben die Coens sich treu. Joel Coen: »Es ist ja nicht so, dass wir hingehen und einen Film machen mit Riesenerwartungen an sein kommerzielles Potential. Das verletzt uns nicht, wir wollen ja nicht von allen umarmt werden. Klar hätten wir gern mehr Zuschauer, wer will das nicht, aber andererseits …« (Körte/Seeßlen, 1998: 15).
Literatur: Peter Körte/Georg Seeßlen (Hrsgg.): Joel und Ethan Coen. Berlin: Bertz Verlag, 1998.
Reinhard Hucke
Über den Autor:
Geboren am 1976 in Erfurt. Von 1997 bis 2000 Studium der Medienwissenschaften in Jena, seit Herbst 2000 Studium der Medienkultur an der Bauhaus-Universität Weimar. Mitarbeit als Autor bei den Zeitschriften frame 25, F.LM sowie bei der Internetzeitung cinefoyer (www.cinefoyer.de).