Wieder ein Tag, warum auch nicht

Allzu weit ist Leander Haußmann nicht vorwärts gekommen. Vor vier Jahren ließ er in der Sonnenallee seine Ostalgie-Komödie gleichen Namens spielen, und nun hat er sich für seinen neuen Berlin-Film nur wenige Kilometer weiter bewegt. Angekommen ist er in Kreuzberg, genauer gesagt im SO-36-Kiez, was für Berliner noch heute eine nicht unwichtige Differenzierung darstellt. In den 80er Jahren jedenfalls war dieser Stadtteil die bundesrepublikanische Diaspora aller Verweigerer der Steigerung des Bruttosozialproduktes. Mit zeitlichem Abstand und verklärtem Blick betrachtet, will man meinen, dass dort jeder irgendwie als Künstler durchgehen konnte, ob er nun musizierte, malte, tapfer trank oder Häuser besetzte – waren doch irgendwie alles artverwandte Disziplinen.

Herr Lehmann kann gut trinken und ist Kellner. Eigentlich heißt er Frank, doch bald wird er 30. Also wird er „Herr Lehmann“ genannt. Und sein bester Freund Karl ist auch Kellner, und dazu noch Künstler. Dann gibt es noch die schöne Köchin Katrin, mit der Herr Lehmann eine umständliche Liaison beginnt, Lehmanns Eltern, die mal schauen wollen, was der Sohnemann so in Berlin treibt und den mysteriösen Rainer, der in allen Kneipen immer wieder auftaucht und Kristall-Weizenbier trinkt. „Kristall-Rainer“ wird er genannt; in Kreuzberg macht man es sich möglichst einfach.

Das ist die eine Geschichte, die der Film erzählt. Wie diese Typen durchs nächtliche Berlin tapern, sich umkreisen, beschnuppern und streiten. Herr Lehmanns und Katrins kleine Liebesgeschichte sorgt zwar anfangs für manch guten Dialog, wichtiger wird dann aber die Freundschaft zwischen Herrn Lehmann und Karl, der im Laufe der Story rasant den Realitätssinn verliert und zum tragikomischen Fürsorgefall wird.

In seinen besseren Momenten bietet das Ensemble lakonischen Humor und ganz und gar komische Situationen mit knappsten Dialogen, die sich die Protagonisten gegen die ständige Geräuschkulisse der Kneipen liefern. Sven Regeners (Sänger der Band Element Of Crime) erfolgreiche Romanvorlage wird gelegentlich hervorragend adaptiert, doch immer will das nicht gelingen. Das Episodenhafte der Vorlage sorgt durch die zu nahe Übertragung und der Angst vor Auslassungen und Verdichtung zu Szenen, die gänzlich misslingen. Herr Lehmanns (Christian Ulmen in seiner ersten Hauptrolle) und Katrins (Katja Danowski) erstes Wortgefecht erinnert eher an ein durchschnittliches Laienspiel. Wer gar ungeduldig nach einem roten Faden sucht und eine fehlende Typen-Skizzierung bemängelt, verliert womöglich schnell die Geduld. Zum Glück aber gelingt Christian Ulmen letztendlich eine überzeugende Verkörperung des gewitzten und motivationslosen Kreuzberger Bohemièns. Im Zusammenspiel mit Detlev Buck kommen auch Szenen zustande, die konzentriert und anrührend sind. Dann ist man für kurze Zeit auch mal befreit von dem penetranten Einsatz der besten und coolsten Songs der 80er und 90er Jahre. Charlotte Goltermann wollte wohl mit aller Gewalt ihr Label Mute und den Soundtrack promoten. Man hat nicht selten das Gefühl, einen Film zu sehen, während aus einem Nebenraum die Musikanlage zu laut tönt.

Neben den westdeutschen Varianten Verschwende deine Jugend (D 2003, unsere Kritik hier) und Liegen lernen (D 2003) also hier mal ein Blick auf die Zeit vor Soloalbum (D 2003) und der restlichen Pop-Literatur mit ihren fragmentarischeren Betrachtungen auf unsere Republik. Herr Lehmann ist charmant und bierselig, manchmal unbeholfen wie seine Darsteller, aber dafür von einem Humor getragen, der sicherlich viele Zuschauer zum Lösen eines zweiten Tickets verführt. Ein Film für eine Nachbereitung der Sorte: Meine Lieblingsszene war ja die, wo Herr Lehmann …

Herr Lehmann
Deutschland, 2003
Regie: Leander Haußmann; Drehbuch: Sven Regener nach seiner literarischen Vorlage; Kamera:Frank Griebe;Schnitt: Peter R. Adam; Darsteller: Christian Ulmen, Sven Buck, Tim Fischer u.a.
Verleih: Delphi Länge: 105 Minuten

Christoph Simon

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