Who let the dogs out?

Fünf Sekunden sind noch zu spielen im Super Bowl, die Steelers führen mit vier Punkten, die Green Bay Packers sind an der 17-Yard-Linie von Pittsburgh. Der nächste Spielzug wird der finale sein, er wird das Spiel entscheiden – nur bei einem Touchdown in letzter Sekunde kann Green Bay den Titel gewinnen. Aaron Rodgers steht in der Shotgun, bekommt den Ball und sieht, wie sein Slot Receiver Jordy Nelson eine Seam-Route genau dort entlang läuft, von wo die Verteidigung der Steelers einen Blitz schickt, wodurch Nelson völlig ungedeckt der Endzone entgegen rennen kann. Rodgers wirft und der Ball kommt…, nein, er kommt nicht an, er fliegt als Bogenlampe mit minimaler Geschwindigkeit Richtung Endzone, hängt drei oder vier Sekunden lang in der Luft und fällt dann wie ein nasser Sack in die offenen Arme des Steelers Safety Troy Polamalu, der mit einer Interception jegliche Hoffnungen der Packers auf ein spätes Comeback zunichte macht.

Diese Szene dürfte so in der Realität kaum vorkommen, da Rodgers angesichts der geschilderten Situation in zehn von zehn Fällen einen harten, flachen Bullet Pass statt den geschilderten Lob werfen würde. In „Madden NFL 12“ von EA Sports hingegen passiert dieses Missgeschick ständig – Bälle schweben träge und in hohem Bogen durch die Luft, sodass die Secondary des Computers genügend Zeit hat, um noch die größten Pass-Fenster zu schließen. Der seit Jahren existierende Mechanismus (antippen = Lob-Pass, gedrückt halten = harter, flacher Pass) gilt zwar an sich weiterhin, nur muss man sich dieses Jahr halb die Finger brechen, um dem Wurf „etwas Senf“ zu geben, wie es im Amerikanischen heißt. Als Resultat dieses Problems stehen am Ende eine deutlich geringere Completion Rate und eine relativ hohe Zahl an Interceptions, was nicht nur den Spielspaß, sondern auch den Realismusfaktor gering hält. Eine Simulation der NFL-Realität kann dieses Pass-System nicht bieten.

Da der durchschnittliche Spieler den Sport eher aus der Perspektive des TV-Zuschauers als aus der des Spielers kennt, bezieht sich der Begriff der „Simulation“ in Sportspielen freilich meist auch auf die Synchronisierung von Fernsehübertragung und Videospiel-Erlebnis. In hervorragender Weise hatte dies der Titel „NCAA Basketball 10“ der leider eingestellten College-Basketball-Reihe von EA Sports verwirklicht. Hier konnte der Spieler zwischen zwei Präsentationsarten und zwei Reporter-Duos wählen – je nachdem, ob man ein Spiel als Produktion von ESPN oder CBS sah, wurden sämtliche Statistik-Einblendungen, Logos und Schriftzüge, ja selbst die Überleitungen in die Werbeblöcke, dem Design der realen TV-Übertragungen angepasst. Das College-Football-Franchise „NCAA Football“ hat wiederum seit Jahren den Sportsender ESPN integriert – neben dem Nischenkanal „The Weather Channel“, über den das tatsächliche Wetter zum Zeitpunkt des Spieles abgerufen wird. Von ESPN wurde das Design der Resultatsleiste komplett übernommen, zudem berichtet die Star-Reporterin des Senders, Erin Andrews, im Star-Modus („Road to Glory“) kontinuierlich von den Entwicklungen des zum individuellen Spieler werdenden Users. Und ist die Konsole mit dem Internet verbunden, werden via ESPN aktuelle Ergebnisse der realen Spiele per Ticker eingeblendet.

„Madden NFL 12“ hingegen widmet sich eher der Simulation des Sports als der des TV-Events. Die eingeblendeten Informationen und die Struktur der Match-Präsentation entstammen einem EA-Sports-eigenen Design statt jenem von CBS oder Fox, den hauptsächlichen Inhabern der NFL-Übertragungsrechte. Einzig die einleitenden Aerial Shots vom Stadion und der NFL-Copyright-Hinweis am Ende eines jeden Spiels erinnern an TV-Übertragungen. Die Kommentatoren Gus Johnson und Cris Collinsworth sind zwar von Fox bzw. NBC, übernehmen aber auch die AFC-Duelle, die real auf CBS laufen würden. Ihr Kommentar ist eine der größten Schwachstellen von „Madden NFL 12“ – und zwar unabhängig davon, wie man zu Johnsons Stil steht, den man wohlwollend als ekstatisch oder aber als schlichtweg nervig beschreiben könnte. Johnsons kontinuierliche Hyper-Attitüde, die jeden Zwei-Yard-Raumgewinn wie ein Super-Bowl-entscheidendes Punt Fake klingen lässt, ist dabei noch nicht einmal das größte Problem. Ständig entstehen lange Pausen, „awkward silence“ würde man das bei einer Live-Übertragung nennen – am offensichtlichsten ist das, wenn bei Quarter-Pausen oder dem Two-Minute Warning Leerstellen im Spielablauf vorkommen oder aber wenn Johnson seinem Kollegen eine Frage stellt, dieser aber nicht darauf antwortet. Viele Inhalte wiederholen sich häufig, auch gibt es erstaunlich viele Spielernamen, die Johnson nicht ausspricht, sondern durch ein dröges „The Quarterback“ oder „Number Seven“ ersetzt. Da hat EA Sports gerade mit den oben erwähnten Titeln „NCAA Basketball“ und „NCAA Football“, ja selbst mit den von Al Michaels und John Madden (dem Namensgeber des Spiels) kommentierten Vorgängern der NFL-Reihe schon weitaus bessere Audio-Tracks geboten. Gleiches gilt für die Publikums-Tonkulisse, da die Fans dem jeweils stattfindenden Match zumindest akustisch eher Desinteresse entgegenbringen und vor allem auf entscheidende Spielsituationen erstaunlich schwach reagieren.

Abgesehen von den Mängeln des Pass-Systems und des Kommentars (oder auch den gelegentlich auftretenden Hängern beim Nachladen während laufender Spielzüge) erreicht allerdings auch die diesjährige Ausgabe einen gewohnt hohen Standard, an den Sportspiele anderer Hersteller selten heran kommen. Erfreulich ist schon mal, dass – erneut mit der Ausnahme des Pass-Systems – die voreingestellten AI-Werte auch ohne größere Anpassungen durch den User ein Realitäts-nahes Spiel ermöglichen. Das war schon in manchem Football-Spiel anders, gerade was die Leistung der Pass Defense und der Run Offense des Computers betrifft.
Neben dem realistischen Gameplay und der Spielsteuerung, die völligen Novizen einen leichten Einstieg gewährt und gleichzeitig langjährigen Usern eine extrem ausdifferenzierte Kontrolle über das Spielgeschehen bietet, überzeugt vor allem die Grafik von „Madden NFL 12“. Durch eine stetig steigende Anzahl gerenderter Bewegungen verfügen die Spielzüge mittlerweile über eine große Offenheit, kaum ein Tackle, kaum ein Ausweichmanöver gleicht den Animationen in ähnlichen Situationen. Die Gesichter wirken lebensecht, der Bewegungshabitus zahlreicher Spieler ist individuell gestaltet und das Gras kommt so nah an einen 3D-Look heran, wie es unter 2D-Bedingungen möglich ist. Nur einen Haken hat die ansonsten hervorragende visuelle Ebene des Spiels: Vor den Cheerleadern, die EA Sports äußerst unvorteilhaft präsentiert, möchte man sich am liebsten in die Kabine flüchten. Who let these dogs out?

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Madden NFL 12
(EA Sports, USA 2011)
Freigabe:
keine Altersbeschränkung
Preis:
ab 49,86 € (PS3), ab 52,83 € (Xbox 360), ab 49,95 € (PSP)

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