Ungeniert realitätsflüchtig

Ohne Frage schuf das Team um Jungregisseur Toke Constantin Hebbeln mit „Nimmermeer“ ein beachtliches Filmpoem, das in handwerklicher und stilistischer Hinsicht voll überzeugen kann. Ebenso behagen die darstellerischen Leistungen, allen voran der zehnjährige Leonard Proxauf, der in der Rolle des Fischersohns Jonas den gesamten Film zu tragen vermag (und der in Breloers „Buddenbrooks“-Verfilmung den jungen Christian verkörpern wird). So überrascht es nicht, dass diese Produktion der Filmakademie Baden-Württemberg mit allerlei Preisen und Nominierungen überschüttet wurde: u.a. erhielt man von der Academy of Motion Picture Arts and Sciences den begehrten Studenten-Oscar für den besten ausländischen Film.

Formal hat man hier auch alles richtig gemacht, dennoch hinterlässt der Film den Zuschauer ratlos. Denn was wird inhaltlich geboten? Erzählt wird die Geschichte des kleinen Jonas (Leonard Proxauf), der mit seinem alten Vater Helge (Rolf Becker) in einer Fischerhütte direkt am Meer wohnt. Jeden Morgen fährt Helge aufs Meer hinaus, dorthin „wo der Himmel die See berührt“, um den großen Fang zu machen, doch die Zeiten sind schlecht und Helge kehrt meist mit leeren Händen zurück. So leben Helge und Jonas zwar arm, aber dennoch glücklich. Doch vor den Dorfbewohnern erfährt der glücklose Fischer keine Achtung, und Jonas wird aufgrund seiner Armut von den anderen Kindern gehänselt und schließlich sogar misshandelt. Helge versucht, die wirtschaftliche Situation zu bessern, doch für einen alten Mann gibt es im Dorf keine Verwendung. In einer stürmischen Nacht fährt Helge wieder aufs Meer hinaus, diesmal voller Zuversicht, dass nun der große Fang möglich ist, dass er seinem Sohn „das Silber vom Himmel“ holen kann. Doch Helge kehrt nicht zurück, stattdessen erscheint am nächsten Morgen der Dorfpfarrer Ekdahl (Sylvester Groth) vor der Hütte, hinter ihm trägt eine Delegation des Dorfes das angeschwemmte Bootswrack des Vaters wie einen Sarg heran.

Unter dem strengen Regiment des Pfarrers und dem Stallknecht Knut (Tom Lass) wird Jonas von nun an mit der harten Realität konfrontiert. Träumereien werden dem Jungen systematisch mit der Rute ausgetrieben. Kaum verwunderlich also, dass Jonas die Rückkehr des verschollenen Vaters ersehnt. Als er am Strand Ausschau nach dem Vater hält, trifft er den zwergenhaften Scherenschnittkünstler Grido (Manni Laudenbach), der mit seiner Gauklertruppe gerade im Dorf gastiert. Von diesem Mentor lernt Jonas nun sukzessive, was die Macht der Phantasie so alles vermag, um die Wirklichkeit zu ertragen, wenn man „nur die Augen schließt“. Am Ende hat Jonas – so viel sei verraten – die Lektion verinnerlicht, und wäre da nicht ein letzter (klitzekleiner) plot twist, müsste man angesichts dieser naiven Geschichte vollends fremdschambedingt erröten: Jonas sitzt am Strand, mit der heilsamen Kraft der Träume ausgestattet, blickt er sehnsuchtsvoll aufs Meer, während die Gaukler von dannen ziehen.

Jetzt könnte der Film enden, aber nein: Jonas springt plötzlich auf und rennt den Gauklern hinterher: er entscheidet sich gegen ein Leben im Dorf und für ein Leben als Gaukler. Aber wie ist das zu verstehen? Ist das nun ein Plädoyer für gewissenlosen Eskapismus? Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Angesichts der Tristesse der Realität mit ihrem kruden Materialismus erscheinen also bloß zwei Lebensentwürfe möglich, entweder die Tröstung durch das Imaginäre oder die Flucht in die Heterotopie. Wo aber bleibt die Hoffnung auf eine Veränderung der realen Verhältnisse, die Verwirklichung der Utopie?

Aus Sicht eines Kindes (also dem Gesellschaftsteil, der noch vor Frauen, Homosexuellen und Migranten am drastischsten unter der Repressionsmacht der sozialen Ordnung zu leiden hat) ist die Utopie natürlich auch (noch) keine Option. Als einfühlsames Psychogramm eines Heranwachsenden gelesen, vermittelt „Nimmermeer“ also eindringlich das beklemmende Gefühl, wie die Kinderseele in den Mühlen des „erwachsenen“ Zweckrationalismus zermalmt zu werden droht. Die Flucht (in die Phantasie und / oder aus der Wirklichkeit) bleibt für ein Kind alternativlos. Das Unbehagen in der Kultur, das der Erwachsene vielleicht besonders intensiv in den gegenwärtigen Tagen eines entfesselten Marktes verspürt, sollte aber doch nicht dazu führen, dass man in Fatalismus oder Eskapismus verfällt, sondern – so politisch versponnen darf man sein! – dass man zum Widerstand sich erhebt und auslotet, welche Möglichkeiten zur Veränderung der gesellschaftlichen Realitäten möglich sind. Zuweilen erinnert nämlich „Nimmermeer“ – u.a. in dem Rückgriff auf Motive der Romantik, sein teilweise expressionistischer Stil, die Schicksalsergebenheit, die Melancholie und Larmoyanz – an das Kino der Weimarer Republik. Das geistige Klima in Deutschland ist scheinbar wieder reif für Filme wie „Metropolis“ und „Dr. Mabuse“, wie die zu diesen beiden Titeln für 2009 bzw. 2010 angekündigten Remakes (von Rat Pack Productions und Thomas Schühly) belegen. Das lässt hoffen, aber auch bangen: Der zwischen Eskapismus, Opferkult und Defätismus oszillierende modus vivendi der Weimarer Republik, wie ihn Kracauer in seiner psychologischen Geschichte des deutschen Films beschrieb, ist wieder da, oder? So gesehen ist „Nimmermehr“ auch ein bisschen gruselig. Vielleicht aber darf man manchmal auch ganz ungeniert realitätsflüchtig sein …

Nimmermeer
(Deutschland 2006)
Regie: Toke Constantin Hebbeln, Drehbuch: Toke Constantin Hebbeln, Nina Vukovic, Kamera: Felix Novo de Oliveira, Musik: Martina Eisenreich, Schnitt: Simon Blasi, André Gelhaar, Darsteller: Leonard Proxauf, Rolf Becker, Sylvester Groth, Tom Lass, Manni Laudenbach, Ursula Graef
Länge: ca. 63 Minuten
Verleih: Kinowelt / Arthaus

Zur DVD von Kinowelt / Arthaus

Die DVD ist recht ansehnlich ge-„authored“, der Hauptfilm ist dem digitalen Ausgangsmaterial entsprechend gut gemastert; bei den Extras war man – wie bei Arthaus / Kinowelt leider sonst häufig – nicht geizig. So befinden sich auf der DVD noch der 13-Minüter „Hilda und Karl“ (ebenfalls vom Regisseur Toke Constantin Hebbeln), ein „Hinter den Kulissen“-Featurette, diverse Vergleiche zwischen Szenen im Casting und im endgüligen Film, das Drehbuch als PDF, eine Fotogalerie und der Kinotrailer.

Zur technischen Ausstattung der DVD:

Format: Dolby, HiFi Sound, PAL
Sprache: Deutsch (Dolby Digital 2.0)
Untertitel: Englisch
Bildseitenformat: 16:9
FSK: Freigegeben ab 12 Jahren
Extras: Kurzfilm „Hilda und Karl“ (13 min.), Kinotrailer, Hinter den Kulissen, Vergleich Casting – finale Szene, Drehbuch als PDF, Fotogalerie

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