SOMETHING MORE THAN NIGHT

„Eine Nacht in Chicago“ – auf diesen Satz ließe sich Eisenbergs Filmexperiment reduzieren. Doch was ist das, dieses vage Etwas, eine Nacht in einer Metropole, liegen doch in dieser äußerst vagen Umschreibung eine Vielzahl konkreter Konnotationen, die auch in ihrer noch so detaillierten Umreißung nicht für sich beanspruchen können, dieses Etwas universell zu definieren. Die immer weiter grassierende Flexibilisierung und Atomisierung von sozialem und ökonomischem Leben erschweren dies zusätzlich.

Folgerichtig versucht Eisenberg erst gar nicht, etwas von universellem Wert mittels seiner Bilder zu formulieren, zumindest aber reduziert er die zu diesem Zwecke unabdingbaren inszenatorischen Möglichkeiten auf das geringste Maß: Oft willkürlich aufgestellt wirkt seine Kamera, von nicht weiterer Bedeutung – außer dem reinen „Stattfinden“ – muten ihre Objekte der Beobachtung an. Minutenlang verharrt die Kamera auf einem, blickt, meist von Außen, in Gebäude des öffentlichen Lebens oder der Nachtarbeit, zeichnet die dortigen Geschehnisse auf, geht anschließend zu etwas vollkommen Anderem hin, betrachtet einfach weiter. Die Tonspur beschränkt sich auf die Geräusche der direkten Umgebung rund um die Kamera, ist somit oft losgelöst vom Beobachtungsobjekt. Irgendwann, nicht selten dem Schein nach willkürlich, dann der Schnitt: das nächste Bild, ähnlich stoisch und lediglich beobachtend wie das vorherige – Galerie der Impressionen, fernab von Ästhetisierung oder ideologischem Projekt.
Ein „Mann mit der Filmkamera“ wie einst Dziga Vertow ist Eisenberg dennoch nicht, der Film steht – ganz bewusst – noch nicht einmal ansatzweise in dieser Tradition. Vertow inszenierte einst dem vorgeblichem Anschein der reinen Dokumentation zum Trotz „Stadtwirklichkeit“ mittels erzählender Schnitte, musikalischer Untermalung und einer im Sinne der Inszenierung bewussten Auswahl von Bildern und Motiven. Eisenberg tut dies nicht. Aber auch eine Dokumentation, sozialer Milieus etwa oder sozialer Wirklichkeiten, ökonomischer Prozesse, Echos der Geschichte im Stadtbild, was auch immer – findet nicht statt.

Der Film wirft den Zuschauer auf sich selbst zurück. Das Bewusstsein für die „gefühlte Zeit“ und den Raum der Projektion steht im Mittelpunkt des Interesses, thematisiert wird – abstrahiert von den Bildern – die grundlegende Bedingung der Möglichkeit jeder Filmvorführung: die Fähigkeit des Menschen, sich einem Stoff zu öffnen, die Fähigkeit des Menschen, Zeit relativ wahrzunehmen. Gerade 77 Minuten dauert diese Collage, wesentlich kürzer als die meisten Spielfilme, und dennoch mutet dieser Film überaus lang an. Er dehnt den Fluss der Zeit, den wir im Kino ansonsten lediglich als durch schnelle Schnitte verkürzte Häppchenware kennen, ins schier Unendliche. In diesem Sinne funktioniert SOMETHING MORE THAN NIGHT als Kinoexperiment vortrefflich und verspricht Erkenntnisgewinn. Sein Problem allein ist, dass Eisenbergs persönliche Notizen zum Film dieses Versprechen ebenso einzulösen in der Lage sind.

Thomas Groh

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.