Sieh, was von der Welt noch übrig ist …

Das Zombiefilm-Genre ist ein dankbares Feld, um die eigenen filmerischen Fähigkeiten zu erproben. Zu den ersten deutschen Horror-Undergroundproduktionen gehörten Zombiefilme wie „Zombie 90 – Extreme Pestilence“ , mit dem Andreas Schnaas 1990 debütierte. Die stillschweigende Überinkunft der Horrorfilmfans, die selbst zur Kamera greifen, scheint es seither zu sein, dass das Schaffen mit einem Film über Untote eingeweiht werden muss. Nun hat Jens Wolf mit „Noctem“ ebenfalls das Parkett betreten.Noctem erzählt die Geschichte des jungen Pärchens Amy und Kusey, die in einer nahezu entvölkerten Welt überleben müssen. In einer unbekannten Großstadt treffen sie wie durch Zufall aufeinander, als sich Amy aus Verzweiflung und Einsamkeit das Leben nehmen will. Sie beschließen die Stadt, in der es von fleischfressenden Untoten wimmelt, zu verlassen und sich auf dem Land einer Gruppe von Überlebenskämpfern anzuschließen. Ihr Weg dorthin führt sie an zahllosen Gefahren vorbei und bringt sie einander näher – bis sie schließlich in der Scheune eines verlassenen Gehöfts zueinander finden und ein Paar werden. Kurze Zeit später begegnen sie der Gruppe, von der Kusey schon so viel gehört hat. Doch entgegen seinen Erwartungen sind es keineswegs Menschen, die eine neue Zivilisation begründen wollen, sondern vielmehr Vagabunden, die Plündern und das Gesetz in die eigene Hand nehmen. Amy, Kusey und Mike, dessen Bruder Opfer der Selbstjustiz der Gruppe geworden ist, beschließen zu fliehen. Sie erreichen ein verlassenes Haus, auf das die Zombies langsam zuwanken. Werden sie die Nacht in diesem Haus überleben?

Noctem präsentiert sich dem Zuschauer als Liebeserklärung an das Zombiefilm-Genre. Nicht nur, dass sich Regie-Debütant Jens Wolf eindeutig zur Tradition des deutschen Undergroundfilms bekennt, nein: Er konstruiert seine Erzählung und ihre Bilder bewusst als Hommage an das von George A. Romero spätestens seit Dawn of the Dead (1979) zeitlos-populäre Untoten-Genre. Wolf nimmt den Faden der Tradition auf und webt daraus eine Erzählung, die die filmhistorischen Wegmarken des Motivs im Rückwartsgang passiert, ganz so, als wolle er diese Tradition in seiner Erzählung zurückverfolgen. Der Aufbruch in der Stadt, das Chaos dort und die herumliegenden Leichen und wankenden Untoten erinnern an Danny Boyles 28 Days later, die selbsternannten Zombie-Jäger, zu denen sich Amy und Kusey durchschlagen wollen, finden ihre Entsprechung in Dawn of the Dead, die Schlusssequenz im Haus erinnert nicht nur durch das Setting (Frühsiebzigerjahre-Tapeten) an Romeros Klassiker Night of the living Dead. Und zwischendrin streut Wolf Szenen und Anspielungen auf nahezu das gesamte Genre ein.

Doch getreu einem postmodernistischen Projekt belässt es Noctem nicht in der Rekonstruktion und Kommentierung des Zombie-Genres. Er entfaltet en passant eine Erzählung, die von Gewalt und Angst, aber auch von Menschlichkeit und den Glauben an ein gutes Ende kündet. Als Amy und Kusey die Stadt verlassen begegnen sie einem Wanderer, der durch sein Äußeres (lange Haare, trauriger Blick) aber auch durch das, was er sagt nicht zufällig an die Erlöser-Figur des Christentums erinnern will. Inszeniert Wolf diesen Moment zwar mit ambivalenter Haltung gegenüber der „typischen Psychose, sich für Jesus zu halten“, wird der Zuschauer im weiteren Verlauf des Films doch gewahr, dass in diesen Momenten vielleicht nicht die Person, wohl aber der Geist Christi anwesend war. Dieser religiöse Subtext findet sich nicht nur im Soundtrack (Passagen aus Bachs H-Moll-Messe), sondern auch in Szenen wieder, in denen zum Beispiel ein in einem Keller verschanzter Autist allein durch die Kraft, die ihm die Bibel schenkt, überlebt hat. Und natürlich im Finale von Noctem, indem die im Wortsinne „lebensmüde“ Amy vor einem Jesus-Bild steht und erkennt, dass die Prophezeihungen des Johannes nicht den Weltuntergang, sondern im Gegenteil die Chance für einen Weltenbeginn darstellen.

Und so endet der Film zwar tragisch, aber nicht hoffnungslos in einer Traumsequenz, in der Amy und Kusey ihre irdische Liebe zu einer metaphysischen Liebe überschreiten. Der Zombiefilm, so scheint es, bietet Jens Wolf dafür nur das Gerüst, das die maximale Entfremdung (von) der Humanität verbildlicht. Augenzwinkernd deutet er dieses „eigentliche Verständnis“ bereits im Naturalismus seiner Inszenierung an: Der Einsatz künstlicher Beleuchtung und professioneller Tonsysteme wird so weit wie möglich reduziert, um die Authentizität der Situationen zu betonen. Der Kontrast zur Parabelhaftigkeit der Erzählung ist damit auch ein ironischer Hinweis an die Rezipienten solcher Filme, die von einem Zombiefilm nicht viel mehr erwarten als But und Gedärme. Diese Erwartung konterkariert Wolf jedoch bereits in der lyrischen Klammer, die er im Pro- und Epilog des Filmes setzt:

„… wir gehen einer Nacht entgegen,
ohne zu wissen, was der Morgen
bringt, ohne Angst.
Blickend auf den letzten Tag,
treten wir in die Dunkelheit.
Bangend um jede Sekunde
miteinander.
„Es wird Zeit“, ruft die
Stimme der Vernunft.
zeit, den Moment zu erleben,
ohne Erwartung auf Wiederkehr.
Zeit …
Carpe diem,
carpe noctem
… erlebe den Tag,
erlebe die Nacht

Noctem
(D 2003)
Regie: Jens Wolf
Buch: Jens Wolf; Kamera: n. n. ; Schnitt: Jens Wolf; Musik: Jens Wolf u. a.; Blutmischung: Martina Schönherr u. a.
Darsteller: Werner Köschl, Andrea Schönherr, Michael T. Hauber, Frank Schwerdtfeger u. a.
Verleih: SOI-Film, Länge: ca. 100 Minuten

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