ePhilosophy

Das mittelalterliche Geschichtsdenken ist im wesentlichen ein heilsgeschichtliches: Geschichte vollzieht sich nach göttlichem Plan. Eng damit verbunden ist der Gedanke der translatio imperii et studii: Weltliche Macht und Kultur gehen durch göttliche Vorsehung von einem Reich auf das andere über. War es im 20. Jahrhundert aus naheliegenden Gründen still geworden um derart hoffnungsfrohe Geschichtsmodelle, so hat sich doch in letzten 10 bis 15 Jahren im Rahmen des Siegeszugs der Neuen Medien in nahezu allen kulturellen und gesellschaftlichen Sektoren eine positive Erwartungshaltung entwickelt, die man als eine Art säkulare Heilsgeschichte zu interpretieren geneigt sein könnte. In den interaktiven Medien, im Cyberspace vermutet man neue Lösungen für nahezu alle drängenden politischen, sozialen und ökonomischen Probleme. Auch hier läßt sich so etwas wie eine translatio imperii beobachten: War es zunächst der ökonomische Sektor, der seine Hoffnungen in eine New Economy setzte (diese Blase scheint unterdes geplatzt), so sind es heute die Sozial- und Kulturwissenschaften, die ihre Fragestellungen unter den Bedingungen der Multimedialität anders buchstabieren und so eine Reihe neuer Forschungsfelder erschließen. Bei der Wortbildung einer entsprechenden Fachterminologie hat sich in diesem Zusammenhang das Suffix „e-“ (für „electronic“) als sehr produktiv erwiesen. Die neuen Forschungsfelder heißen also zum Beispiel eGovernance, ePublishing, oder eLearning.

Mike Sandbothe hat mit seiner 2001 erschienen Habilitationsschrift den Versuch unternommen, diese Besinnung auf den medialen Wandel für die Philosophie zu leisten, und eine Medienphilosophie des Internets vorgelegt – gewissermaßen also eine ePhilosophy. (Als ‚Buch zum Boom‘ kommt es damit freilich etwas zu spät, aber gute Hegelianer wissen freilich – und darauf rechnet der Autor auch in seiner Einleitung –, daß die Eule der Minerva bei ihren Startvorbereitungen höchst gewissenhaft ist; Verspätungen sind da vorprogrammiert.) Wie man dem Untertitel seines Buches entnehmen kann, ist der Anspruch – auch da ist Hegel wohl implizites Vorbild – nicht eben bescheiden: Es geht um nichts Geringeres als die „Grundlegung einer neuen Disziplin“, die angesichts des „Zeitalters des Internet“ eben vonnöten sei.

Diese neue Disziplin Medienphilosophie, so wie Sandbothe sie im Anschluß an den Neopragmatismus Richard Rortys entwirft, ist dezidiert pragmatischen Zuschnitts; abgegrenzt wird diese Konzeption von einer „theoretizistischen Medienphilosophie“, die sich primär der „theoretische[n] Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen der Erzeugung von Sinn und der Konstitution von Wirklichkeit“ (S. 12) verschreibt und die Medienphilosophie damit gewissermaßen – als Nachfolgerin der einstigen innerphilosophischen ‚Königsdisziplinen‘ Metaphysik, Erkenntistheorie und Sprachphilosophie – als prima philosophia zu etablieren sucht. Demgegenüber ist es das Anliegen der pragmatischen Medienphilosophie, „den schon fast konfessionell anmutenden Streit zwischen Medienrealisten und Medienkonstruktivisten durch die Frage aufzulockern, welche Medienepistemologie für demokratische Gesellschaftsformen angemessen ist“ (ebd.). (Aus diesem Ansinnen heraus ist auch verständlich, warum gerade das Internet für Sandbothe zum Leitmedium wird. Mit keinem anderen Medium sind, wie eingangs erwähnt, ähnliche soziokulturelle und politische Heilserwartungen verknüpft.)

Das Buch besteht aus sechs Kapiteln. In den ersten drei Kapiteln liefert Sandbothe sozusagen den theoretischen Überbau seiner Überlegungen. Auf der Grundlage dieses Überbaus erfolgt dann in den Kapiteln 4–6 eine medienphilosophische Analyse des Internets, die in das Projekt einer „experimentellen Medienepistemologie“ mündet. Im ersten Kapitel rekonstruiert der Verfasser die Entstehung des ‚akademischen Lehrfachs‘ Philosophie und präpariert dabei die „metaphilosophische Spannung zwischen Theoretizismus und Pragmatismus“ heraus, die auch die derzeitige medienphilosophische Diskussion durchziehe. Das zweite Kapitel dient der genauen Konturierung des Rortyschen Neopragmatismus, der die theoretische Grundannahmen der in dem Buch vorgelegten pragmatischen Medienphilosophie bereitstellt. Im dritten Kapitel werden dann die beiden konkurrierenden Modelle von Medienphilosophie – das theoretizistische und das pragmatische – genauer charakterisiert; Sandbothe plädiert hier im Anschluß an seinen akademischen Lehrer Wolfgang Welsch für ein „transversales Konzept pragmatischer Medienphilosophie“, in dem die beiden Modelle miteinander vernetzt werden. Im darauffolgenden Kapitel arbeitet der Autor die „transmediale Grundverfassung“ (S. 152) des „Hypermediums“ (S. 168) Internet heraus, um in den abschließenden Kapiteln fünf und sechs dann Vorschläge zu liefern, wie dieses ‚Supermedium‘ für die „aufklärerisch-demokratische Gestaltung menschlichen Zusammenlebens“ (S. 206) nutzbar zu machen ist.

Dem Werk ist zugute zu halten, daß es in toto recht gut lesbar ist (sieht man von einer verhängnisvollen Vorliebe zum „Applizieren“, „Exponieren“ und „Exkludieren“ ab); angesichts des Umstandes, daß es sich um eine akademische Qualifikationsarbeit handelt, darf dieser Sachverhalt wohl eigens betont werden, denn Verständlichkeit und Eingängigkeit sind keine selbstverständlichen Charakteristika dieser Textsorte. Auch gelingen Sandbothe in seinem Buch interessante Lektüren ‚klassischer‘ philosophischer Werke in medienphilosophischer Perspektive – etwa der „Grammatologie“ Jacques Derridas; wenn er freilich bei seiner Analyse des Internets die Volte vollzieht, das Surfen im Netz sei per se gewissermaßen der praktische Vollzug der Dekonstruktion, so ist dies sicherlich zuviel des Guten. Der in dieser flotten Übertragung sich manifestierende Überschwang ist es wohl auch letztlich, der Sandbothes Buch insgesamt zu einer Enttäuschung macht: Der Philosoph ist von seinem „transmedial verfaßten Hypermedium“ so vorbehaltlos begeistert, daß ihm die Analyse zu einer Lobpreisung gerät; das Internet ist eine eierlegende Wollmilchsau, wie der Autor mit starkem Hang zum Chiasmus („Verschriftlichung der Sprache“ – „Versprachlichung der Schrift“, „Verschriftlichung des Bildes“ – „Verbildlichung der Schrift“ etc.) darlegt. Dabei unterscheidet er nicht angemessen zwischen den zur Verfügung stehenden technischen Mitteln und ihrer gegebenenfalls kreativen Nutzung. Den Umstand, daß ein Bild als Link dienen kann, schon als „Verschriftlichung des Bildes“ zu feiern, ist reichlich hoch gegriffen. Insgesamt ist zu konstatieren, daß Sandbothe mit seiner Internetphilosophie an der oben angesprochenen säkularen Heilsgeschichte mitschreibt.

Ärgerlich ist dann in diesem Zusammenhang, daß der Medienphilosoph schmerzlich hinter der eigenen Programmatik zurückbleibt. Die Habilitationsschrift liegt nur als schnödes, gedrucktes Buch vor. Hier hätte es sich doch angeboten, einen ‚echten‘ Hypertext zu schreiben, also performativ einzuholen, was so bloße Forderung bleibt. Auch die Homepage des Philosophen, dies sei abschließend hinzugefügt, ist eher statisch und bietet Einbahnstraßenkommunikation. An einer interaktiven Version, so kann man dort lesen, wird noch gearbeitet. Anscheinend traut man der eigenen Heilsgeschichte nicht so recht…

Mike Sandbothe
Pragmatische Medienphilosophie. Grundlegung einer neuen Disziplin im Zeitalter des InternetWeilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001.
276 Seiten (Paperback)
24,50 Euro

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