Serpiccolo

Wenn man ihm auf den Straßen Roms begegnen würde, würde man die eigene Geldbörse wohl unweigerlich fester halten, denn Tony Marroni, „genannt ,die Kastanie’“, ist nicht gerade das, was man als vertrauenswürdigen Typen bezeichnen würde: Sein markantes braungebranntes Gesicht ziert ein schmuddeliger schwarzer Vollbart, der den expressiven, ständig in Bewegung befindlichen Mund einrahmt. Auf den langen fransigen Locken trägt er eine Strickmütze oder eine andere wahrscheinlich von irgendeinem Wühltisch abgestaubte Kopfbedeckung. Marronis liebstes Kleidungsstück ist jedoch der praktische Blaumann, den er auch gern auch mal mit einem Jackett oder einem Trenchcoat kombiniert und dessen Reißverschluss immer etwas geöffnet bleibt, sodass darunter die haarige Männerbrust zum Vorschein kommt. Seine Füße schließlich stecken in praktischen Sportschuhen, denn Maroni muss  in seinem Job gut zu Fuß sein: Doch entgegen seinem äußeren Erscheinungsbild ist er nicht etwa ein Taschendieb oder sonstiger Kleinkrimineller, sondern vielmehr ein Polizist und zwar der beste, den die Stadt Rom zu bieten hat.

51xH1aJqypL__SL500_AA240_Tony Marroni, wie ihn die deutsche Synchronisation nennt, heißt in der italienischen Originalfassung eigentlich Nico Giraldi und ist die wohl mit Abstand populärste Figur, die der in Kuba geborene Tomas Milian in seiner langen Filmkarriere verkörperte. In elf zwischen 1976 und 1984 in Italien entstandenen Filmen schlüpfte der vielseitige und charismatische Darsteller in den Blaumann und prägte eine typisch italienische Version der unbequemen Großstadtbullen, die im US-Kino der Siebzigerjahre reüssierten, weil sie die drängenden Probleme und Selbstzweifel der westlichen Wohlstandsgesellschaften so trefflich verkörperten. Setzt sich schon der US-amerikanische Polizeifilm immer auch mit den Problemen von Klasse und Klassenbewusstsein auseinander, so darf man seinem italienischen Verwandten durchaus unterstellen, diese Auseinandersetzung geradezu auf die Spitze zu treiben. Dies wird umso deutlicher, als Nico Giraldi ganz explizit nach amerikanischem Vorbild  modelliert ist: In seinem Zimmer hängen zahlreiche Plakate von Sidney Lumets Copfilm „Serpico“, einem der einflussreichsten Copfilme der Siebzigerjahre, mit dessen Titelheld Giraldi mehr als nur eine flüchtige Ähnlichkeit hat. Und genau diese Ähnlichkeit hilft dabei, die teilweise frappierenden Unterschiede zwischen dem italienischen und dem amerikanischen Bullen zu akzentuieren.

Der US-Filmcop ist ein klassenloser Arbeiter, ein Heimatloser, der damit leben muss, von den Zivilbürgern, die seine Autorität fürchten, ebenso misstrauisch beäugt zu werden wie von den höheren Staatsdienern, für die er auch nur ein Untergebener ist. Seinen Feierabend verbringt der Cop deshalb meist zusammen mit seinen Kollegen in überwiegend von Polizisten frequentierten Bars und am Wochenende lädt er seinen Partner und dessen Familie zum Barbecue zu sich in den Garten ein. Von der eigenen Ehefrau und seinen Kindern entfremdet er sich immer mehr, weil die psychische und physische Belastung des Jobs an ihm nagen und er sich nicht mitteilen kann. Er ist Diener des Staates, für den er Leben und Gesundheit riskiert, aber dieses commitment wird ihm nicht entsprechend vergütet, im Gegenteil: Er lebt nur knapp über dem Existenzminimum und ist von der Zivilgesellschaft weit gehend abgeschottet. Das Ergebnis sind frustrierte Zyniker wie „Popeye“ Doyle (Gene Hackman) aus William Friedkins „Brennpunkt Brooklyn“ oder Harry Calahan (Clint Eastwood) aus Don Siegels „Dirty Harry“: vereinsamte Cops, die sich verraten fühlen und deren Verbitterung sich im zunehmenden Hass auf die Kriminellen äußert, die der Gesellschaft schaden, aber doch immer besser wegzukommen scheinen als sie selbst. Ihre Ermittlungsmethoden überschreiten die Grenze der Legalität und beruhen auf einem alttestamentarischen Gerechtigkeitsverständnis – Auge um Auge, Zahn um Zahn –, das die Grenzen der Legalität zu verwischen droht. Frank Serpico (Al Pacino), Nico Giraldis Idol, ist in diesen Kreisen gewissermaßen in doppelter Hinsicht ein Außenseiter: Nicht nur, weil er ein von der Friedensbewegung der Sechzigerjahre geprägter Intellektueller ist, der mit seinen langen Haaren, dem Vollbart, seinen lässige Mützen und weiten Hosen aus der Masse seiner spießbürgerlichen Kollegen heraussticht, sondern vor allem, weil er sich offen gegen die Korruption wendet, mit deren Erlös sich seine Kollegen über die Frustration, die ihr Job verursacht, finanziell hinwegtrösten. Wo der US-amerikanische Copfilm also sonst vom Bullen erzählt, der zum reaktionären Zyniker wird, schildert „Serpico“ die Geschichte eines Mannes, der sich gegen diese Entwicklung zur Wehr setzt, ist also sozusagen der Anti-Copfilm.

Das führt uns zu Nico Giraldi, denn auch der geht einen etwas anderen Weg als all die Hardliner, die auch der italienische Polizeifilm kennt. Er ist nicht der einsame Wächter, der auf verlorenem Posten kämpfende Moralist, sondern selbst im Herzen ein kleiner Ganove, der die Seiten gewechselt hat und nun dafür sorgt, dass nicht immer nur die Habe- und Taugenichtse die Gefängnisse füllen. Sein Ziel sind nicht die kleinen Fische, die doch nur auf ihre Weise versuchen, zu überleben, sondern die gierigen und gewissenlosen Hintermänner, die andere für sie die Drecksarbeit machen lassen und selbst immer mit reiner Weste dastehen. Giraldi ist insofern ein typisch italienischer Polizist: Er sympathisiert mit dem Sozialismus und dem einfachen Volk von der Straße und misstraut den Reichen. Seinen Polizeidienst darf man insofern durchaus als gelebten Klassenkampf intepretieren. Wenn er in „Die Strickmütze“ kleine Taschendiebe laufen lässt, um den gewissenlosen amerikanischen Geschäftsmann, Diplomaten und Hehler Norman Shelley (Jack Palance) dingfest machen zu können, er sich in „Der Superbulle schlägt wieder zu“ gemeinsam mit dem britischen Versicherungsdetektiv Robert Clayton (David Hemmings) in San Francisco als Trickbetrüger versucht, um einen großangelegten Versicherungsbetrug aufzudecken, in „Ein Superbulle gegen Amerika“ seinem armen in die USA ausgewanderten Onkel gegen die Mafia beisteht oder er in „Elfmeter für den Superbullen“ in der reichen Stadt Mailand den Mord eines Arztes an einer Prostituierten aufklärt, so lassen sich seine Ermittlungen auch immer auch als Kampf der Mittellosen gegen das skrupellose Kapital lesen. Doch der missionarische Feuereifer, der den linksintellektuellen Serpico und den rechtskonservativen Popeye Doyle verbindet, geht Giraldi vollkommen ab. So sehr ihm an der Gerechtigkeit gelegen ist, so klar ist er sich darüber, dass sein Job eine „Work in Progress“ ist, ein Hinarbeiten auf den Idealzustand, der jedoch niemals erreicht werden wird. Dies frustriert ihn weniger als es ihm zu einer Lässigkeit verhilft, die ihn mehr prägt als alles andere: Es ist ein bestimmter Lifestyle, der Giraldi auszeichnet und ihn als Filmfigur so interessant macht. Wenn er sich in seine selbstgestrickten Mützen, Schals und Socken hüllt, mit seinen weißen Mäusen spricht, auf Zahnstochern und Zigaretten herumkaut oder er sich mit sichtlichem Spaß am Rollenspiel in einer Schwulenkneipe als Homosexueller ausgibt, dann strahlt er etwas aus, das durchaus untypisch für einen Polizisten ist: Lebensfreude und Unverdrossenheit. Giraldi hat genau den Frieden gefunden, den Frank Serpico in seinem Apartement im New Yorker Studentenviertel Greenwich Village vergeblich gesucht hat.

Mit ihrer Betonung eines südländischen Lebensstils, der als Antwort auf alle gesellschaftlichen probleme fungiert, reflektieren die Nico-Giraldi-Filme speziell italienische Befindlichkeiten und lassen sich von daher nur schwierig auf andere Länder übertragen. In Deutschland wendete man für ihre Vermarktung eine in den Siebzigern vor allem in den Spencer/Hill-Filmen überaus erfolgreich erprobte Strategie an und verpasste Nico Giraldi mit „Tony Marroni“ nicht nur einen neuen, „lustigen“ Namen, sondern den Filmen auch eine entsprechend kalauernde Synchronisation, die den Figuren auch dann noch markige Sprüche in den Mund legte, wenn die Schauspieler diesen schon gar nicht mehr bewegten. Anders als jedoch bei der Fernsehserie „Die Zwei“, die Rainer Brandt mit seiner Synchronisation von einer Krimi- in eine Komödienserie und damit von einem weltweiten Flop in einen deutschen Fernseherfolg verwandelte, muss man bei den Nico-Giraldi-Filmen konstatieren, dass sie ihren Ursprung sowieso in der burlesken Komödie hatten: Auch hier also ein klares Zugeständnis an die kulturelle Tradition des italienischen Proletariats. Zudem wurde Milian, wie schon erwähnt kubanischer Herkunft, für die Giraldi-Filme auch in Italien selbst synchronisiert und zwar von Ferruccio Almendola, einem waschechten Römer, der der Figur den passenden Gossenslang verpasste. Ob man sich nun für das italienische Kino oder den Polizeifilm interessiert oder nicht, ist eigentlich egal, denn sehenswert sind die Giraldi-Filme – egal in welcher Fassung – vor allem wegen der Leistung Tomas Milians, der den Nico Giraldi mit unglaublicher (später wahrscheinlich koksinduzierter) Energie versieht und dem das Kunststück gelingt, eine Karikatur zum Leben zu erwecken. Seine Grimassen, seine südländische Gestikuliererei, sein ungebremster Übereifer halten die sonst lose strukturierten, episodischen Filme zusammen, fungieren als roter Faden, der auch späteren Installationen der Serie, wie etwa dem unsäglichen „Ein Superbulle gegen Amerika“, noch Wiedererkennungswert verleiht. In diesem sechsten Eintrag der Reihe verlegte man die Abenteuer Giraldis ins sonnige Florida, wo es damals etliche italienische Filmhelden hinzog: Ein Schuss, der nach hinten losging, weil die Figur durch den Milieu- und Schauplatzwechsel ihres natürlichen Lebensraums beraubt wurde. Nico Giraldi gehörte nach Rom. Woanders konnte man ihn nicht verstehen.

Die Strickmütze
(Squadra antiscippo, Italien 1976)
Regie: Bruno Corbucci; Drehbuch: Mario Amendola, Bruno Corbucci; Musik: Guido & Maurizio De Angelis; Kamera: Nino Celeste; Schnitt: Daniele Alabiso
Darsteller: Tomas Milian, Jack Palance, Maria Rosaria Omaggio, Guido Mannari, Raf Luca
Länge: 95 Minuten
Verleih: Sunfilm

Der Superbulle schlägt wieder zu
(Squadra antitruffa, Italien 1977)
Regie: Bruno Corbucci; Drehbuch: Mario Amendola, Bruno Corbucci; Musik: Guido & Maurizio De Angelis; Kamera: Marcello Masciocchi; Schnitt: Daniele Alabiso
Darsteller: Tomas Milian, David Hemmings, Anna Cardini, Massimo Vanni, Bombolo
Länge: 95 Minuten
Verleih: Sunfilm

Ein Superbulle gegen Amerika
(Squadra antigangsters, Italien 1979)
Regie: Bruno Corbucci; Drehbuch: Mario Amendola, Bruno Corbucci; Musik: Goblin; Kamera: Giovanni Ciarlo; Schnitt: Daniele Alabiso
Darsteller: Tomas Milian, Enzo Cannavale, Asha Puthli, Margherita Fumero, Gianni Musi
Länge: 87 Minuten
Verleih: Sunfilm

Elfmeter für den Superbullen
(Dellitto a Porta Romana, Italien 1980)
Regie: Bruno Corbucci; Drehbuch: Mario Amendola, Bruno Corbucci; Musik: Franco Micalizzi; Kamera: Giovanni Ciarlo; Schnitt: Daniele Alabiso
Darsteller: Tomas Milian, Bombolo, Olimpia Di Nardo, Leo Gavero, Aldo Ralli
Länge: 92 Minuten
Verleih: Sunfilm 

Zur DVD von Sunfilm

Die vier Filme, die in der „Superbox“ enthalten sind, finden sich in einem normalen Case auf zwei DVDs verteilt. An Bild- und Tonqualität sollte man nicht zu hohe Anforderungen stellen: Sie sind akzeptabel, ohne jedoch den technischen Standard, den man heute gewohnt ist, zu erreichen. Im Vergleich schneidet „Elfmeter für den Superbullen“ am schlechtesten ab, weil der Ton extrem dumpf und verrauscht ist. Extras finden sich keine.

Bild: 1,78:1 (16:9/anamorph)
Ton: Deutsch (Dolby Digital 1.0 Mono)
Untertitel: keine
Extras: keine
Freigabe: FSK 16
Preis: 9,95 Euro

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