Kindchen, wechsel dich!

Der wissenschaftliche Fortschritt und die daraus erfolgte (vermeintliche) Aufgeklärtheit des Publikums hat sich für den Horrorfilm durchaus als produktiv erwiesen. Dass gefährliche Neigungen und rätselhafte Verhaltensweisen heute nicht mehr auf das Wirken des Teufels und seiner illustren Dämonenschar geschoben, sondern meist psychologisch untermauert werden, hat dem erschreckenden und furchteinflößenden Potenzial des Genres keinen Abbruck getan, sondern im Gegenteil dessen Möglichkeiten vergrößert und sein Fortbestand gesichert; zumal jeder rationale Erklärungsversuch immer noch dieses kleine Hintertürchen für den nicht totzukriegenden menschlichen Aberglauben offen lässt. Eine Tatsache, die sich vor allem das Horrorsubgenre des Besessenheitfilms zunutze macht.

51ZUfikGqdL._SS400_[1]Die Psychologin Jane Van Dopp (Carice van Houten), die bei einem Unfall ihren Sohn verlor, wird auf eine kleine irische Insel beordert, wo sie ein Gutachten über Dorothy Mills (Jenn Murray) erstellen soll, die man gerade noch davon abhalten konnte, einen Säugling umzubringen. In der der streng katholischen Bevölkerung des kleinen Eilands ist man sich einig darüber, dass diese Dorothy mit dem Bösen im Bunde ist, doch das Mädchen selbst kann sich an nichts erinnern, zeigt sich verängstigt und verunsichert. Ein traumatisches Erlebnis scheint ihre Persönlichkeit förmlich zersplittert zu haben … oder hat doch ein böser Geist von ihr Besitz ergriffen?

Es ist schon fast ein filmisches Klischee geworden, dämonische Besessenheit an psychische Störungen zu koppeln und so religiöse und wissenschaftlicher Überzeugungen gegeneinander auszuspielen. William Friedkin leitete diesen Trend mit seinem „Der Exorzist“ in den frühen Siebzigerjahren ein, Agnés Merlet setzt ihn nun, fast vierzig Jahre später, mit ihrem „Dorothy Mills“ fort, logischerweise ohne auch nur annähernd an die somatische Wirkung von Friedkins legendärem Schocker anknüpfen zu können. Es steht zu vermuten, dass dies auch nicht in ihrem Interesse lag: „Dorothy Mills“ ist ein ruhig und behutsam erzählter Film, der eher von der Empathie für seine beiden gleichermaßen traumatisierten Hauptfiguren lebt und dem man die weibliche Handschrift durchaus anmerkt (vielleicht aber auch nur eine Projektion des männlichen Rezensenten, wer weiß). Die regnerische Tristesse auf der irischen Insel, in deren wind- und regengepeitschter Schroffheit man die katholische Strenge wiederzuerkennen glaubt, mit der Pastor Ross (Gary Lewis) über seine Schäfchen wacht, ist weniger atmosphärischer Hintergrund für eine unheimliche Geschichte als vielmehr Ausdruck eines moralischen Urteils über die in Doppelmoral lebenden Inselbewohner, die die Reinheit ihrer Dorfgemeinschaft vor allem deshalb predigen, weil sie wissen, dass diese schon längst der Vergangenheit angehört. Dorothy Mills ist nicht nur ein willkommener, weil wehrloser Sündenbock, sondern darüber hinaus auch Opfer dieser Religiösität, die immer wieder in blinden Fanatismus umkippt. Der Psychologin, die gekommen war, das Rätsel um Dorothy aufzuklären, kommt es  zu, der Dorfgemeinschaft die Maske vom Gesicht zu reißen und sie mit ihrem Verbrechen zu konfrontieren – und so schließlich auch die kleine Dorothy endgültig zu „erlösen“.

„Dorothy Mills“ verfügt über schöne Bilder, die in der natürlichen Rauheit des Inselsettings schwelgen, und eine herausragend agierende Jenn Murray, die alle Fassetten von Dorothys gespaltener Persönlichkeut überzeugend verkörpert und die wenigen unheimlichen Momente des Films ganz allein trägt. Hier klingt dann auch schon die zentrale Kritik trotz dieser Meriten leider nur mittelmäßigen „Dorothy Mills“ an, der insgesamt weder Fisch noch Fleisch und deshalb einfach uneffektiv ist. Leider nämlich verzettelt sich Merlet in ihrer Geschichte, die Motive des Psychothrillers, des Backwood-, Okkult- und Besessenheits- sowie des Geisterfilms umständlich miteinander verbindet und dabei die klare Linie vermissen lässt. Dass sich das Thema teuflischer Besessenheit sehr Gewinn bringend mit den rationaleren Erklärungen des Psychothrillers verbinden lässt, habe ich schon erwähnt. Merlet unterwandert jedoch die dialektische Dynamik, in der diese beiden zueinander stehen, durch die Beimengung anderer Elemente, die keine andere Funktion zu haben scheinen, als die sich schon früh andeutende Auflösung zu verschleiern und den Film „origineller“ zu machen. So erscheint „Dorothy Mills“, der sich bei der Charakterisierung seiner beiden weiblichen Hauptfiguren und der Etablierung ihrer Beziehung zueinander viel Zeit nimmt und dabei ganz bei sich wirkt, an anderer Stelle plump und hingeworfen, in der Zusammenführung seiner einzelnen Stränge sowohl erzählerisch als auch formal unbeholfen. Das kulminiert in einer schrecklich melodramatischen Szene am Ende des Films, als die Ereignisse der Vergangenheit vor der versammelten Figurenschar noch einmal ablaufen wie ein Film, alle ihren Moment der Selbsterkenntnis haben dürfen und sich zum Genrekuddelmuddel plötzlich auch noch Elemente des Zeitreisefilms mischen. Das Problem: Wo andere Filme die menschliche Unentschiedenheit zwischen Glauben und Rationalität thematisieren und dramatisieren, reflektiert „Dorothy Mills“ diese selbst nur. Agnès Merlets „Dorothy Mills“ markiert den Endpunkt eines kreativen Prozesses, an dem die Arbeit eines Filmemachers eigentlich erst beginnt.

Dorothy Mills
(Irland/Frankreich 2008)
Regie: Agnès Merlet; Drehbuch: Agnès Merlet, Juliette Sales; Musik: Nathaniel Mechaly; Kamera: Giorgios Arvanitis; Schnitt: Monica Coleman
Darsteller: Carice van Houten, Jenn Murray, David Wilmot, Ger Ryan, Gary Lewis
Länge: 102 Minuten
Verleih: Koch Media

Zur DVD von Koch Media

Bild- und Tonqualität der DVD scheinen durchaus ansprechend, soweit ich das anhand der mir vorliegenden Kopie beurteilen kann.

Bild: 2,35:1 (16:9/anamorph)
Ton: Deutsch, Englisch (Dolby Digital 5.1), Deutsch (DTS 5.1)
Untertitel: Deutsch
Extras: Trailer, Making of
Freigabe: FSK 16
Preis: 12,95 Euro

Diese DVD bei Amazon kaufen.

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.