Psychoanalyse, transdisziplinär

Die Psychoanalyse ist als Wissenschaft selbst transdisziplinär angelegt gewesen und hat diesen Charakter außerhalb der psychologischen Forschung auch stets behalten. Ihr Begründer Sigmund Freud hat nicht wenige seiner Studien über die Betrachtung des Individuums auf die Gesellschaft erweitert (Das Unbehagen in der Kultur, 1929/30) und auf die Ästehtik übertragen (Das Unheimliche, 1919). Dass er als Intellektueller seiner Zeit an wichtigen Debatten teilgenommen hat, zeigt nicht zuletzt sein Briefwechsel mit Albert Einstein „Warum Krieg?“ (1933). Die Psychoanalyse als „Psychologie“ hingegen hat sich aus der Transdiszipliarität immer mehr zurückgezogen und das, obwohl die einzelnen Disziplinen aus Natur- und Kulturwissenschaften stets an der Erweiterung der Theorie mitgearbeitet haben.


Diesem Umstand zu begegnen und die zahlreichen Ein- unf Rückflüsse von Psychologie, Geistes-, Natur-, Neuro- und Sozialwissenschaften auf die Psychoanalyse zu aufzuzeigen, ist das jetzt in der zweiten Auflage im Kohlhammer-Verlag erschienene „Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe“ angetreten. Die Herausgeber versammeln darin zu 186 Termini der Freud’schen Psychoanalyse über 130 Autoren etlicher Wissenschaftsgebiete.

Die Darstellung der einzelnen Artikel folgt dabei einem strengen Aufbau: 1. Definition, 2. Klassische Auffassung, 3. Ideengeschichtlicher Hintergrund, 4. Wesentliche Erweiterungen, Differenzierungen und Modifikationen, 5. Die Entwicklung des Begriffs in den verschiedenen Schulrichtungen, 6. Interdisziplinäre Beiträge. Abschließendwerden zu jedem Eintrag umfangreiche bibliografische Empfehlungen ausgesprochen. Gerade ein solcher Aufbau ermöglicht es, die Geschichte der einzelnen Phänomene bis zum aktuellen Stand der Debatte nachzuzeichnen. Der fünfte und sechste Punkt kennzeichnen die jeweiligen Diskurse, in die der Begriff eingeflossen und in denen er erweitert worden ist.

Der Ausgangspunkt ist zwar jeweils das freudianische Konzept des Begriffes doch führt jeder einzelne Artikel (nicht nur historisch) darüber hinaus. Auf diese Weise dient das Wörterbuch neben der Definition vor allem auch der Begriffs- und Ideengeschichte und stellt für die Kulturwissenschaft eine sehr wertvolle Ergänzung und Erweiterung der Standard-Werke von Pontalis/Laplanche, Sandler/Dare/Holder und Nagera dar.

Dass der Kohlhammer-Verlag das Handbuch bereits in der zweiten Auflage veröffentlicht, lässt einerseits auf das hohe Interesse an der Thematik schließen, deutet andererseits aber auch voraus, dass man gewillt ist, mit der Entwicklung der Theoriebildung Schritt zu halten. Es ist zu erwarten, dass der umfangreiche Band schon bald als das enzyklopädische Standard-Werk der Disziplin gelten wird. Dies wäre dann nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass dem Rückzug der klinischen Psychoanalyse aus der Diskussion mit dem „Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe“ erfolgreich entgegen getreten wordenist.

Wolfgang Mertens & Bruno Waldvogel (Hrsg.)
Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe
Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer, 2002 (2. Auflage)
ca. 860 Seiten, gebunden, 74,00 Euro

Stefan Höltgen

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