Martin Scorsese und das System „Georg Seeßlen“

Mit Konzepten wie dem Tod des Autors bei Roland Barthes, der Auflösung des Autors in den Diskursen bei Michel Foucault, der Grammatologie von Jacques Derrida und der Intertextualität, die Julia Kristeva aus dem Werk von Michail Bachtin übersetzt, hat sich das Verhältnis des Lesers zum Schriftlichen gründlich geändert. Statt abgeschlossener Bücher gibt es nur mehr ein einziges Schriftuniversum aufeinander verweisender Zeichen. Alles ist ein Text. Oder wie Derrida kursiv und im Zentrum seiner Grammatologie formuliert: „Ein Text-Äußeres gibt es nicht.“ Georg Seeßlen, die Schreibmaschine der deutschsprachigen Filmpublizistik, formuliert in einem seiner seltenen Interviews:

Ich behaupte, dass sowieso alles nur ein einziger Text ist; vielleicht so etwas wie ‚ein Roman der Wahrnehmung unserer Zeit’. […] Ob ich über Film schreibe oder über Politik, ist im Grunde genommen dasselbe. Es geht immer um die Glocke der Bilder, unter der wir uns befinden, aus der – wie ich hoffe – auch immer noch ein Weg hinausführt. (F.LM. Texte zum Film. Jg. 1. Nr. 2/2003: 53.)

1.

2003 hat Seeßlen wieder mal etwas zum Film geschrieben. Herausgekommen sind neben vielen anderen Texten und einem gewaltigen Science Fiction-Lexikon zwei Bände für den Berliner Filmverlag Bertz – Die Matrix entschlüsselt und Martin Scorsese. In seinem Matrix-Buch geht es Seeßlen um die magische Biographie eines Teenagers und seines aus verschiedenen Kulturaspekten zusammengesetzten Jugendzimmers als Schlüssel zum Archivansatz der Matrix-Filme zwischen Philosophie und Popkultur. Das andere Buch ist längst überfällig und mit 576 vollgepackten Seiten ein veritabler Ziegelstein geworden. Es ist wie das David Fincher-Buch der Bertzschen film-Reihe im Hardcover, und neben den bei Bertz üblichen gestochen scharfen Filmsequenzen, ziert das Buch in der Mitte eine 16seitige Farbstrecke (289-304) auf Hochglanzpapier. Die Filmstills sind dabei durchaus aus dem blutigen „ab 18“-Bereich, für den Scorsese bekannt ist. Wieder gibt es auch die für Bertz typischen äußerst umfangreichen Film- und Bibliographien sowie einen Index. Nach der 22seitigen Einleitung „Hölle und Gnadenort“ mit einem Überblick über das filmische Schaffen Scorseses durchläuft Seeßlen chronologisch jeden einzelnen Film, von dem neunminütigen What’s a Nice Girl like You Doing in a Place like This? (1963) bis zu Gangs of New York (2003). Er lässt auch Fernseh- und Videoclipproduktionen, wie das Michael Jackson-Video zu Bad (1987), nicht aus. In einer Mixtur aus Paraphrase des Inhalts, zum Teil verblüffenden formalen Einzelbeobachtungen, die durch die s/w-Sequenzbilder unterstützt werden, und unzähligen Vergleichen und Indizien innerhalb eines unendlichen filmischen Verweisuniversums, das Seeßlen wie kein zweiter kennt, verlieren sich die Aussagen aber zuweilen in längst vermutete Allgemeinplätze, und eingesprenkelte Fachtermini geraten mitunter in den Ruch des floskelhaften Name Droppings. So steht zum Beispiel schon vor der Lektüre des Gangs of New York-Kapitel fest, dass in dem jüngsten und monumentalen Werk Scorseses wieder einmal all seine „Obsessionen“ und „Welt-Modelle“ vereinigt sind, und der Film unter der Last „zusammenzubrechen droht“ (386). Viele Schlussfolgerungen geraten zu selbstverständlich. Es gibt keine Überraschungen, denn Scorsese und seine Filme scheinen immer das zu bestätigen, was man immer schon vermutet hat, wie die Bedeutung von Little Italy oder der Ikonographie des Katholizismus in seinen Filmen. In dem Schlusskapitel „Martin Scorsese und die kopernikanische Wende des Kinos“ nimmt Seeßlen sich unter vier Kategorien („Diskontinuierliche Spiritualität“, „Der Mensch in seiner Hölle“, „Komposition“ und „MarSco, oder die Tücke des filmischen Subjekts“) einzelne Aspekte des Scorseseschen Schaffens heraus, in denen noch einmal die Besonderheit des Scorseschen Erzählstils herausgebildet werden soll. In der Absicht, die zahlreichen Verweise des Film-Buff-Regisseurs Scorsese möglichst vollständig aufzuzählen, verliert sich Seeßlen aber auch in diesen Kapiteln zu schnell in seinem eigenen selbst hauptsächlich von Verweisen und Vergleichen getragenen Text.

Eine von Seeßlens Eigenarten ist es, jedem Regisseur, den er – selbstverständlich auch dem Format der „Filmemacher-Monographie“ geschuldet – immer als Auteur betrachtet, eine Generalthese zu unterstellen, die er mit seinem Ansatz der „magischen Biographie“, den er in seinem David Lynch-Buch ausformuliert, unterfüttert. Diese Vorgehensweise liefert auf geschickte Weise die Grundlage dafür, sowohl etwas zu den Filmen als auch zum Leben des Regisseurs schreiben zu können und beides dergestalt in Verbindung zu setzen, dass alle Filme und das Leben des Filmemachers relativ widerspruchsfrei ein Gesamtkunstwerk ergeben. Seeßlen ist deswegen immer dann stark, wenn es um Einzelbeobachtungen und ihre Kontextualisierung geht, vor allem, wenn man sich für das große Verweisuniversum „Erzählkino“ interessiert. Zusammen mit den Bildsequenzen gibt es durchaus einige Aha-Erlebnisse. Weniger hilfreich sind die zahlreichen unbefragten Kategorien Seeßlens, wie die zwei Fluchtlinien „Genre“ in seiner Reihe Grundlagen des populären Films und „Auteur“ in den Regisseur-Reihen bei Schüren und Bertz, die beide ein stets gleichförmiges kontinuierliches Schreiben innerhalb eines festen Regelsatzes erzwingen.

Fazit: Sicher gibt es keine vergleichbare Monographie zum Werk von Martin Scorsese. Wer sich wirklich umfassend informieren möchte, kommt nicht an Seeßlens Monumentalwerk vorbei. Aber sichtbar wird auch, dass sich die Lesekategorien von Seeßlen zusehends abnutzen. Man mag den einen großen mehr oder weniger semiotisch orientierten, mehr oder weniger anekdotischen und geschmäcklerischen heraklitischen Fluss des Systems „Georg Seeßlen“ mögen. Auf Dauer ermüdet der immer gleiche Text zu unterschiedlichen Filmen aber nicht nur, sondern er wird auch methodisch suspekt. Sicher, bei Seeßlen befindet man sich in einer Grauzone der Publizistik zwischen wissenschaftlicher Analyse und feuilletonistischer Filmkritik. Aber in den Begriffen nachprüfbar und in der Interpretation ökonomisch müssen auch Sachbücher sein. Deshalb stellt sich unweigerlich die Frage ein, ob Seeßlens Kategorien tatsächlich so einheitlich auf alles, was er im Kino sieht, zutreffen. Gibt es denn immer einen Universalschlüssel zu Filmemacher und Filmen gleichermaßen? Lässt sich das Modell der „magischen Biographie“, hinter dem sich das 1960er Jahre-Modell des „Auteur“ verbirgt, ohne Not ins Unendliche fortführen? Wäre es nicht mal an der Zeit, die Differenzen hervorzuheben? Nicht jedes filmische Werk ist ein undifferenzierter Text ohne Widersprüche, Höhen- und Tiefpunkte. Häufig wünscht man sich deshalb einen terminologisch etwas spezifischeren oder manchmal auch nur einen ganz anderen Zugang. Denn letztlich verweist die Großerzählung Seeßlens in Gestalt einer langen Bibliographie trotz des archivarischen Hintergrundwissens weniger auf die Filmemacher und Filme als auf das eigene Schreibsystem. Man könnte deshalb zusammenfassen, dass in dem jüngsten und monumentalen Werk Scorseses, pardon: Seeßlens, wieder einmal all seine „Obsessionen“ und „Welt-Modelle“ vereinigt sind, und das Buch unter der Last „zusammenzubrechen droht“.

2.

Vor dem lang erwarteten neuen Seeßlen-Standard sind zwei andere Monographien zu Martin Scorsese in deutscher Sprache erschienen. Auffällig an der Übersetzung des Buches von Robert Lasagna zu Martin Scorsese ist das Großformat (fast DIN A 4). Und man kann vorweg sagen: Es ist ein schönes Sachbuch mit anekdotenreichen Informationen zu Scorsese und seinen Filmen. Wie bei vielen Büchern dieser Art steht auch hier zu Beginn eine Art Schlüssel, der das Gesamtwerk für den Leser öffnen soll. Hier lautet die zentrale These: „Martin Scorseses Filme sind Konfliktfilme“ (5). Das trifft allerdings auf Scorseses Filme genau so zu wie auf das gesamte Erzählkino. Deswegen wird das Konzept im weiteren Verlauf auch so gut wie fallen gelassen. Ohne Fachterminologie gelingen Lasagna interessante Betrachtungen der einzelnen Filme bis zu Bringing Out the Dead (1999), die mit vielen Hintergrundinformationen verknüpft werden. Manchmal geraten seine Aussagen etwas zu apodiktisch, wenn er genau zu wissen meint, was der Film oder auch der „Autor“ wollen. Das Buch geht zwar chronologisch vor, fasst auf 143 Seiten die Kapitel aber thematisch zusammen. (Von „Martin Scorsese, Filme der Unruhe“ bis „Das unsichtbare Filmen“.) Abgerundet wird das Buch von einem dreiseitigen Interview mit Scorsese über das 2001-Projekt [sic!] „Gangs of New York“, einer Filmographie und bibliographischen Hinweisen. Das Buch erscheint im Angebot des Marburger Schüren Verlags.

Ein Teil der britischen Filmbuchreihe „Close Up“ aus dem Hause Orion liegt mit Bänden zu George Lucas, Francis Ford Coppola, Steven Spielberg und Martin Scorsese im Rowohlt Verlag unter dem Reihentitel „Nahaufnahme“ in deutscher Übersetzung vor. Man findet sie seit einiger Zeit vor allem in Antiquariaten. Bis zu Kundun (1997) geht Andy Dougans sich nicht von Film zu Film hangelnder Ansatz. Stattdessen steckt er auf 219 Seiten in der deutschen Ausgabe Themenkomplexe wie „Einwanderergeschichte“, „Sünde und Buße“ oder „Das alte Viertel“ ab, die biographische mit filmographischen Informationen vermengen. Die vollständigen Kritiken der Filme Scorseses aus dem Variety-Magazin runden den Band ab. Die unscharfen s/w-Bilder der deutschen Ausgabe sind mit der Originalausgabe, in der diese zum Teil farbig abgedruckt sind, allerdings nicht zu vergleichen. Fazit: Das Buch von Dougan legt die Betonung etwas stärker auf biographische Details, während Lasagna sich den Filmen auch schon mal auf formalanalytischer Ebene nähert. Beide Bände lesen sich gut. Als erste Einführung zu Werk und Leben taugen beide.

Georg Seeßlen
Martin Scorsese
Reihe „film: 6“
Berlin: Bertz 2003
576 Seiten (gebunden)
25,00 Euro

Roberto Lasagna
Martin Scorsese
Reihe „Berühmte Filmregisseure“
Rom: Gremese 2002 (1998)
143 Seiten (Paperback)

Andy Dougan
Martin Scorsese
Reihe „Nahaufnahme“)
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998
217 Seiten (Paperback)

Andy Dougan
Martin Scorsese
The Making of his Movies
Orion 1997. (= Close Up)
144 Seiten (Paperback)
12,28 Euro

Arno Meteling

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