Kurzrezensionen März 2009

  • Aurel Kolnai: Ekel, Hochmut, Haß. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007.
  • Peter Handke: Publikumsbeschimpfung. Mit einer DVD der Theateraufführung. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008.
  • Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. 4. Auflage. Weimar: Metzler 2008.
  • Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans. Frankfurt: Suhrkamp 2008.
  • Dorothee Kimmich, Rolf G. Renner, Bernd Stiegler (Hgg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 2008.
  • Georg Simmel: Jenseits der Schönheit. Frankfurt/Main: Suhrkamp: 2008.
  • Reiner Keller: Michel Foucault. Konstanz: UVK 2008.
  • W.-A. Liebert/T. Metten (Hgg.): Mit Bildern lügen. Köln: H.-v.-Halem 2007.
  • K.-M. Kodalle/H. Rosa (Hgg.): Rasender Stillstand. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008.
  • Clemens Niedenthal: Unfall. Marburg: Jonas 2007.

Ekel – Hochmut – Hass

Zwischen 1929 und 1935 sind die drei Essays, die der Suhrkamp-Verlag vom deutsch-ungarischen Philosophen Aurel Kolnai jetzt in einem Band veröffentlicht hat, erstmals erschienen. Bei der bloßen Phänomenologie dieser drei „feindlichen Gefühle“ (so der Untertitel) belässt es Kolnai allerdings nicht. Bereits im ersten Teil über den Hass weitet er seine Untersuchung zu einer Ästhetik des Ekels in Kontrast zum Begriff „Angst“ aus, weswegen das Buch auch für Nicht-Philosophen (und speziell für Nicht-Analytiker) interessant sein dürfte. Den Unterschied setzt Kolnai hier zwischen der physisch/physiologischen Befindlichkeit und dem, was er das „moralisch Ekelhafte“ nennt, was eben nicht mehr nur die Reaktion angesichts von Fäulnis, Gestank und ähnlichem betrifft, sondern auch akustische Kakophonien und ähnliches mit einbezieht. Jeder der drei Essays schließt mit einem Kapitel zur „Überwindung“ der betreffenden „feindlichen Gefühle“ ab und überführt die Themen dadurch schließlich in eine moralphilosophische Debatte. In einem Nachwort würdigt der Sozialphilosoph Axel Honneth das Werk Kolnais und stellt seine Wirkung für die Phänomenologie, analytische und Moralphilosophie heraus.

Aurel Kolnai: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Mit einem Nachwort von Axel Honneth. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007, 176 Seiten (Taschenbuch), 9,00 Euro. Bei Amazon kaufen.

»Zuvor aber werden Sie noch beschimpft werden.«

Im Rahmen der Reihe „Suhrkamp 1968“ hat der (noch) Frankfurter Verlag im vergangenen Jahr einige seiner Texte aus genau jener kulturellen Umbruchzeit noch einmal neu aufgelegt. Neben Marcuses „Versuch über die Befreiung“, Habermas‘ „Protestbewegung und Hochschulreform“ sowie anderen Texten aus Philosophie und Kulturwissenschaft, befinden sich darunter auch literarische Texte, wie Peter Handkes 1968 im Frankfurter Theater am Turm uraufgeführtes Stück „Publikumsbeschimpfung“. Das Besondere an der Reihe ist nun jedoch nicht die Republikation von Texten (die ohnehin nicht vergriffen sind), sondern die Ausstattung der Bände, zu denen nämlich jeweils eine DVD (produziert von absolutMEDIEN) gehört, auf der der Text im Band vorgeführt ist – entweder in Form eines Vortrags oder – wie beim Handke-Buch – seine Darstellung im Theater. Die Uraufführung von „Publikumsbeschimpfung“ ist dabei von besonderem Interesse, weil sich der Skandal, den der Autor mit dem Stück provozieren sollte (und der sich bereits im Titel andeutet), auch tatsächlich ereignet hat: Die endlosen Tiraden der Darsteller werden nach 40 Minuten vom Publikum, das zwischendrin schon des öfteren gezischt und gebuht hat, unterbrochen, als einige Zuschauer auf die Bühne steigen und zurück-beleidigen. War die Provokation darauf hin angelegt? War es eingeplant, dass das Stück sogar unterbrochen oder abgebrochen würde? Nein, denn schnell werden die Querulanten, die es sich gewagt hatten, die zuvor durch direkte Anrede von den Schauspielern geöffnete vierte Wand zu durchbrechen, unter Pfui-Rufen der Zuschauer wieder von der Rampe begleitet und die „ordentliche Beleidigung“ kann weitergehen. Genau dies filmisch festgehalten zu haben ist ein Glücksfall und so ist die DVD zum Buch auch nicht bloß Illustration, sondern performative Ergänzung des Textes, die die Möglichkeiten der Literatur (Monolog) und die Möglichkeiten des Theaters (Widerspruch) filmisch vorführt.

Peter Handke: Publikumsbeschimpfung. Mit einer DVD der Theateraufführung. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, 96 Seiten (Taschenbuch), 19,68 Euro. Bei Amazon kaufen.

Vierte Runde

Das vom Amerikanisten Ansgar Nünning herausgegebene „Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie“ hat sich seit seinem ersten Erscheinen vor nunmehr elf Jahren zum wichtigsten einbändigen Kompakt-Nachschlagewerk der Geisteswissenschaften entwickelt. Ein Indiz dafür ist, dass in vergleichsweise so kurzer Zeit nun schon eine vierte, aktualisierte und erweiterte Auflage erschienen ist. In ihr ist der Text nicht nur (endlich) an die neue Rechtschreibung angepasst worden, sondern auch um ein Dutzend übergreifende Artikel sowie 30 Grundbegriffe erweitert worden. Auch Personenartikel zu Giorgio Agamben, Aleida und Jan Assmann, Mieke Bal, Guy Debord, Michel de Certeau und René Girard sind neu hinzugekommen. Bei den Neuaufnahmen dominieren Artikel zu raumtheoretischen Konzepten sowie – der Herkunft des Herausgebers wird es geschuldet sein – narratologische Begriffe. Das wie immer sehr sorgsam edierte und redigierte Lexikon besticht auch in den neuen Artikeln durch seinen Kompromiss zwischen knapper und dennoch präziser Darstellung. Trotzdem sind wichtige Artikel, wie die neuen „Bildwissenschaft“ oder „Literaturpsychologie“ wieder mindestens 4-spaltig angelegt. Ob es für Studenten, die durch den Bologna-Prozess zum Instant-Studium der Geisteswissenschaften gezwungen werden, damit noch als brauchbares Nachschlagewerk eignet, wie der Herausgeber im Vorwort hofft? Es fehlt immer noch ein Begriffswörterbuch mit einführendem und hinweisendem Charakter, das den Nünning-Band nicht zu ersetzen, wohl aber zu ergänzen in der Lage wäre.

Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. 4. Auflage. Weimar: Metzler 2008, 808 Seiten (Hardcover), 29,95 Euro. Bei Amazon kaufen.

»Nichts lehren, nichts lernen, verlernen«

Ende der 1970er Jahre, nachdem er sich schon von der Literatursemiologie ab- und der Fotografie-Theorie zugewandt hatte, fasste Roland Barthes das Vorhaben, einen Roman zu schreiben. Es ist ihm nicht geglückt, aber das „Scheitern“ dieses Vorhabens hat er reflektiert und in einer Vorlesung aufbereitet. Dort reflektiert er die verschiedenen Schwierigkeiten, Möglichkeiten und Techniken, die sich einem Schriftsteller stellen anhand der Werke und Biografien Flauberts, Kafkas und Prousts. Den Aufhänger für die Entwicklung literarischen Schreibens rekrutiert er jedoch nicht aus der europäischen, sondern aus der japanischen Literatur – den Haiku-Gedichten. Einen Überblick über das nun bei Suhrkamp erschienene Vorlesungstransscript geben zu wollen, muss schon anhand der Fülle und Vielfältigkeit der darin abgefassten Gedanken scheitern. Seine oft in Stichpunkten entwickelten Vorträge werden immer wieder durch „Abschweifungen“ unterbrochen, in denen er Gedanken zu zuvor gestreiften Themen weiterentwickelt. Gerade diese allmähliche Verfertigen der Gedanken bei der Vorlesung macht „Die Vorbereitung des Romans“ so lesenswert, denn es zeigt den Produktionsprozess von Gedanken und Theoriebausteinen, die man in Barthes Textes sonst nur im Ergebnis als flüssige Wissenschaftsprosa präsentiert bekommt. Mit im Band ist auch der Auftakt zu einer zweiten Vorlesung über Proust und die Fotografie enthalten, die Barthes jedoch nicht mehr zu halten im Stande war. Im Anhang finden sich Haiku-Gedichte, auf die er referiert, sowie die Fotografien, die er in der Proust-Vorlesung verwendet hätte.

Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, 570 Seiten (Taschenbuch), 18,00 Euro. Bei Amazon kaufen.

Eine neue Gegenwart

Die Literaturtheorie der Gegenwart entwickelt sich kleinschrittig weiter – große Theoriemodelle werden seit den 1970er-Jahren nicht mehr vorgestellt. Allenfalls werden bestehende Konzepte in den Kanon eingefügt, wie sich an der kürzlich erschienenen Neuausgabe des erstmals 1996 erschienenen Reclam-Bandes „Literaturtheorie der Gegenwart“ ablesen lässt. Es sind die „turns“ in den Kulturwissenschaften, die laut Vorwort der Herausgeber eine Veränderung des Bandes sinnvoll gemacht haben. So haben die drei Herausgeber eine komplette Abteilung „Kulturwissenschaften“ (mit Texten von Aby Warburg, Clifford Geertz, Richard Johnson und Albrecht Koschorke) hinzugefügt, den „Literatur und Medien“-Teil, in dem sich bislang nur Kittler und Flusser befanden, um eine Untersektion „Intermedialität“ mit zwei neuen Beiträgen erweitert, aus der Sektion „Literatur und Gesellschaft“ Gramski hinausgeworfen und die „Kritische Theorie“ noch einmal unterteilt in „Theorie der Kommunikation“ mit einem Text von Fredric Jameson. Die Sektion „Intertextualität“ ist komplett und ersatzlos entfernt worden, weswegen es sich lohnt, die alte, 90 Seite schmalere Ausgabe nicht zu ersetzen, sondern zu ergänzen, wenn man auf den paradigmatischen Bachtin-Text von Julia Kristeva und Karlheinz Stierles „Werk und Intertextualität“ Wert legt. Ergänzt und überarbeitet wurden zudem die Literaturhinweise in den einzelnen Sektionen.

Dorothee Kimmich, Rolf G. Renner, Bernd Stiegler (Hgg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 2008, 575 Seiten (Taschenbuch), 12,00 Euro. Bei Amazon kaufen.

Jenseits der Schönheit

… ist der Sammelband im Suhrkamp-Verlag betitelt, in dem der Georg-Simmel-Forscher Ingo Meyer im vergangenen Jahr Texte zur Ästhetik und Kunstphilosophie des Philosophen und Soziologen veröffentlicht hat. Simmel zählt zusammen mit Walter Benjamin und Aby Warburg zu den zentralen Denkern der europäischen Kultur „um 1900“ und seine Theorie – etwa über das Stadtleben, die Mode oder das Geld – haben die Kulturtheorie vor, mehr aber noch nach dem zweiten Weltkrieg wesentlich beeinflusst. Der Sammelband versucht einen Querschnitt des vielfältigen Denkens Simmels zu vermitteln und enthält neben Zeitschriftenaufsätzen Buchkapitel aus den Hauptwerken „Die Philosophie der Mode“ und „Die Philosophie des Geldes“, aber auch Briefe, Aphorismen und Gedichte. Meyer unterteilt den Band thematisch in die Bereiche „Ästhetik der Lebenswelt“ (in der sich Simmels Kulturtheorie des frühen 20. Jahrhunderts besonders niedergeschlagen hat), „Werk- und Wirkungsästhetik“ (hier finden sich Auseinandersetzungen zu einzelnen Philosophien der Kunst, aber auch zu Dichtern, Gattungen und Medienontologie statt) und schließlich einen Bereich über die „Lebensphilosophie“, zu deren Protagonisten Simmel gezählt wird. Der Band, der anlässlich des 150. Geburtstags Simmels erschienen ist, kann die Konsultation der zentralen Werke natürlich nicht ersetzen, wohl aber einen guten ersten Einblick liefern. Auch auf Vollständigkeit wird man nicht hoffen können; warum allerdings ein so zentraler Text für die „Kunstrezeption“ wie „Die Großstädte und das Geistesleben“ fehlt, ist unklar, zumal sich an diesem Text besonders deutlich zeigt, welche ästhetischen Implikationen in den soziologischen und kulturhistorischen Überlegungen Simmels liegen.

Georg Simmel: Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie. Ausgewählt und mit meinem Nachwort von Ingo Meyer. Frankfurt/Main: Suhrkamp: 2008, 437 Seiten (Taschenbuch), 15,00 Euro. Bei Amazon kaufen.

Noch eine Foucault-Einführung?

Gerade in den letzten Jahren sind im deutschsprachigen Raum derartig viele einführende Werke zu Michel Foucault erschienen oder neu aufgelegt worden, dass man von einer regelrechten Foucault-Renaissance sprechen könnte (wenn er denn je „out“ gewesen wäre). Der UVK-Verlag hat sich jetzt angeschlossen; dort hat der Koblenzer Soziologe Reiner Keller einen Foucault-Band in der Reihe „Klassiker der Wissenssoziologie“ herausgebracht. Dass der französische (Post)Strukturalist ein wichtiger Denker für die Soziologie gewesen ist, ist unbestritten – teilweise hat er sich selbst sogar in diesen Diskurs eingebracht, etwa mit seinen Überlegungen zur Theorie Moderne. Für die Wissenssoziologie ist er in den 1990er Jahren entdeckt worden und zählt mit Theoretikern wie Arnold Gehlen, Karl Mannheim und Thomas Luckmann zu den paradigmatischen Denkern dieser Disziplin. Diese Perspektive versucht Keller vorzustellen und gleichzeitig immer noch „einführend“ zu schreiben. Er sortiert das Begriffs- und Methoden-Instrumentarium Foucaults in die „Werkzeugkiste“ (Keller) der Soziologie, insbesondere natürlich mit all jenen Konzepte, die dem „Wissen“ (das für Foucault von seiner strukturalistischen bis zur poststrukturalistischen Phase zentrales Untersuchungsphänomen war) zugeordnet sind: Archäologie, Genealogie, Diskurs, Dispositiv, Macht, Gouvernementalität. Diese „Werkzeugkiste“ ist zusammen mit seiner Re-Lektüre der Subjektphilosophie Foucaults als „historische Wissenssoziologie“ das Zentrum des 150-seitigen Bandes. Dass er dabei nicht umhin kommt, die Begriffe zunächst zu definieren, ist dem (allgemeinen) einführenden Charakter des Werkes nur zuträglich. Der UVK-Verlag wird im Laufe dieses Jahres noch weitere Bänder in der Reihe veröffentlichen, und ein Blick in die Publikationsankündigung verrät, dass Foucault nicht der letzte Denker ist, der dabei dieser Neubewertung unterzogen wird.

Reiner Keller: Michel Foucault. Konstanz: UVK 2008, 154 Seiten (Taschenbuch), 14,90 Euro. Bei Amazon kaufen.

Ein Bild lügt mehr als Tausend Worte

In den vergangenen Jahren hat sich der Kölner Herbert-von-Halem-Verlag ein gutes Standing als Publikationsort für die „Bildwissenschaften“ erarbeitet. Bereits 2007 ist dort der Sammelband „Mit Bildern lügen“ erschienen, in welchem die Herausgeber die ebenfalls sehr lebhafte medienwissenschaftliche Fake-Debatte mit den Bildwissenschaften verbinden. Die Beiträge sind inhaltlich und methodisch reichhaltig: Von grundsätzlichen Überlegungen zur Wahrheitsfähigkeit von Bildern (Clemens Albrecht, Roduolf Lüthe) über Beispiele aus der Kunstgeschichte zu optischen Täuschungen, Trompe L’oels und Vexierbildern aber auch immersiven Ton- und Bildästhetiken der Panoramen und Leporellos (Dietrich Grünewald, Michael Meyer, Kristin Wetphal, Thomas Metten) bis hin zu ethischen Fragestellungen angesichts medienstrategischer Wahrheitsproduktion im Fernsehen am Beispiel des Papst-Todes oder politischer Propaganda (Markus Lohoff, Heinrich Assel). Ein besonders interessanter Bereich ist der in der Schlusssektion von Wolf-Andreas Liebert und Dietrich Paulus betrachtete der „technischen Bilder“. Hier wird die Frage aufgeworfen, wie (natur)wissenschaftliche Objektivität mit der grundsätzlichen Polysemie, Interpretier-  und Manipulierbarkeit von technisch erzeugten Bildern am Beispiel medizinischer (Dietrich Paulus) oder klimatologischer Aufnahmen (Wolf-Andreas Liebert) umgehen. Die methodische und inhaltliche Vielfältigkeit der Beiträge zeigt bereits, dass der Bildwissenschaft hier noch eine spannende Debatte bevorsteht. Der überaus lesenswerte kleine Band besitzt (sieht man einmal über die beim Verlag ungewöhnliche Marotte, jede Seite drucktechnisch auszunutzen, hinweg) leider nur einen kleinen Makel: Die Bilddarstellungen sind oft sehr minderwertig, so dass manchmal nur die Textbeschreibung beim Erkennen des Bildes weiterhilft. Gerade für eine bildwissenschaftliche Publikation sollte hier mir Sorgfalt an den Tag gelegt werden.

Wolf-Andreas Liebert/Thomas Metten (Hgg.): Mit Bildern lügen. Köln: Herbert-von-Halem-Verlag 2007, 220 Seite (Taschenbuch), 22,00 Euro. Bei Amazon kaufen.

Beschleunigung

Bei der Menge an Publikationen, die der Würzburger Königshausen&Neumann-Verlag Jahr für Jahr auf den Buchmarkt bringt, können schon einmal Zweifel über die inhaltliche Qualität der Bücher aufkommen. Zumeist sind es ja auch Dissertationen und Tagungsbände und bei einigen hat man das Gefühl, einen Lektor haben diese Werke nie kennen gelernt. Umso erfreulicher ist es, wenn in einer der anerkannten Reihen des Verlagshauses, deren Herausgeber über jeden Zweifel erhaben sind, ein neuer Teil zu einem spannenden Thema erscheint, wie jüngst der zwölfte Band des „Kritischen Jahrbuchs der Philosophie“. Die Jenaer Philosophen Klaus-Michael Kodalle und Soziologen Hartmut Rosa haben diesen Band der „Beschleunigung des Wirklichkeitswandels“, seinen „Konsequenzen und Grenzen“ gewidmet. Rosa, der zur Beschleunigung seine sozialwissenschaftliche Habilitation verfasst hat, triftt mit Kodalle auf einen altgedienten Moralphilosophen und damit einen idealen Mitherausgeber um sich des Virilio-Themas (der Titel ist eine Übernahme eines seiner Hauptwerke) anzunehmen. Die zwanzig Beiträge des Bandes gliedern sich in verschiedene kulturwissenschaftliche Felder: Geschichte, Recht und Politik, Wirtschaftswissenschaften, Technologie sowie Philosophie und Psychologie. Bei dieser Bandbreite sind die Zugänge erwartungsgemäß breit und reichen von volkskundlichen Erörterungen der Zeitkultur, wie sie sich in Festen und Feiern niederschlagen (Michael Maurer) über die beschleunigenden Auswirkungen der Globalisierung auf die Lebenswelt (Helmut Hesse) und Beschleunigungsmanagements in Chemie-Unternehmen (Josef Meran) bis hin zu neurowissenschaftlichen Erkenntnissen über Zeit-Bewusstsein (ein Jenenser Kollege der Herausgeber: Wolfgang Miltner). Die „praktische Zielsetzung“, von der die Herausgeber im Vorwort schreiben, wird dabei zu keiner Zeit aus den Augen verloren, so dass sich die einzelnen Beiträge auch als Ansatzpunkte für eine Diskussion in den jeweiligen Einzelwissenschaften verstehen lassen, die wohl von keiner Disziplin besser strukturiert und verknüpft werden könnte, als der Philosophie.

Klaus-M. Kodalle/Hartmut Rosa (Hgg.): Rasender Stillstand. Beschleunigung des Wirklichkeitswandels: Konsequenzen und Grenzen. Kritisches Jahrbuch der Philosophie Band 12. Würzburg: Königshausen und Neumann 2008, 302 Seiten (Taschenbuch), 38,00 Euro. Bei Amazon kaufen.

Entschleunigung

„Seit sich das Auto auf den Weg gemacht hat, kommt es regelmäßig von ihm ab“, betitelt der Berliner Kulturwissenschaftler Clemens Niedenthal die Fotografie eines auf einer unbefestigten Landstraße gegen eine Birke gefahrenen Lastkraftwagens. Vor dem Fahrzeug liegen zwei Personen auf dem Boden und es sieht nicht so aus, als hätten sie den Unfall überlebt. Mit der Erfindung des Automobils beschleunigt sich die Lebenswelt rasant – es steht Paul Virilio zufolge mit anderen Erfindungen des späten 19. Jahrhunderts wie dem Film in einer Reihe von Technologien, die die Moderne nachhaltig verändert haben. Walter Benjamin konstatiert, dass diese Beschleunigung den Menschen in ganz neue Lebensgefahren versetzt und das Unfall-Buch Niedenthals vollzieht diese Aussage kulturhistorisch nach. Der Autor hat sorgsam Archive studiert, Unfallberichte und -Fotografien zusammengetragen und alles zu einem wunderbar lockeren, aber niemals seichten oder auf das bloße Skandalon fixierten Essay verarbeitet. Der Autounfall steht für ihn nicht gegen die Beschleunigung der Moderne, sondern ist eines ihrer Symptome. Er zeigt, dass unabsichtliche Kollisionen wie absichtliche Attentate auf Fahrzeuge (die es als Protest gegen die Motorisierung von Beginn an gegeben hat) auch zum Zeichenvorrat einer Kultur der Beschleunigung gehören. Das (nicht immer angenehm) reichhaltig illustrierte Buch ist neben seinem Inhalt aber auch schon wegen seiner Aufmachung ein kleines Schmuckstück: Ein stabil eingebundener Band in Taschenbuch-Größe mit Fotodruck-Papier, auf dem der Text trotzdem gut lesbar ist – und das zu einem erfreulich niedrigen Preis.

Clemens Niedenthal: Unfall. Portrait eines automobilen Moments. Marburg: Jonas 2007, 144 Seiten (Hardcover), 15,00 Euro. Bei Amazon kaufen.

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.