Filmfest München 2007: „Half Nelson“

Es ist ein Film mit so vielen Enden, und keines davon wäre unangemessen: Da gibt es zuerst den Protagonisten, High School-Lehrer Daniel Dunne (großartig: Ryan Gosling), bei seinen Eltern. Er ist irgendwie am Boden zerstört bei diesem kleinen Familientreffen, bekommt seine Drogensucht nicht in den Griff, unausgesprochen. Ob die Eltern überhaupt davon wissen, könnte man sich fragen, bis Daniel mal wieder sein unvollendetes Buch erwähnt, gegenüber der Freundin seines Bruders: „It’s about change“, sagt er, und sein Vater fällt ihm – angetrunken – ins Word. „Yeah, Dan, what is change?“, Schweigen die Folge, und eine Versöhnung. Ein wenig Aufwind eben, der Abspann kann kommen.


Stattdessen, nächste Sequenz: Dunnes Schülerin, die 13jährige Drey, die ihn einmal mit der Crackpfeife auf der Schultoilette erwischt hatte, stolpert – als Drogenkurier – in eine Drogen-Party, mit ihrem Lehrer mittendrin. Resigniert winkt er sie heran, drückt ihr einen Geldschein in die Hand, nimmt das Päckchen, schickt sie weg. Resignation im nächsten Rausch, jetzt der Abspann, und die Momentaufnahme aus dem Leben dieser beiden Menschen wäre perfekt, und entließe den Zuschauer wohl in eine pessimistische Vorstellung ihrer Zukunft.

Das liegt „Half Nelson“ jedoch fern, wie überhaupt jeglicher belehrende Gestus. Stattdessen setzt Regisseur Ryan Fleck sein Konzept bis in die letzte Konsequenz um. So ist die Kamera stets nahe am Geschehen, zu nahe. Sie beschneidet die Gesichter der Protagonisten, zeigt mal nur Dunnes Augen, seinen Munde, seine Hände, nur manchmal wirklich im Fokus, oft leicht unscharf. Und auch die Requisiten sind kaum anders auf der Leinwand zu sehen: Sein Fixerbesteck zum Beispiel taucht in der ersten Filmhälfte überhaupt nicht explizit auf, nur in Andeutungen. Da liegt mal ein rußiger Löffel auf dem Tisch, oder etwas zerknüllte Alufolie. Die Ausschnitte wirken wie aus einem Ratespiel, nur dass die Lösung immer offensichtlich ist – und auch nie danach gefragt wird. Drey weiß sofort Bescheid, als sie ihren Lehrer der Bewusstlosigkeit nahe findet, sie sagt nichts, fragt nichts. Sie sieht ihn nur an, zögert einen kleinen Moment zu lange, als dass man ihr die naive Unschuld noch abkaufen könnte, die ihr genuscheltes „Sorry“ behauptet.

Daniel Dunnes Geschichtsunterricht entspricht so gar nicht der Norm; er gliedert ihn nicht nach Lehrplan, sondern lässt seine Schüler stattdessen über einzelne Daten referieren. Daten, die seiner Ansicht nach Wendepunkte für bestimmte Ereignisse ausmachen; die komplexe historische Geschehnisse im Ablauf weniger Stunden komprimieren – besagte „changes“, um die sich auch sein Buch drehen soll. Es sind genau solche Wendepunkte, mit denen Dunne selbst nicht klarkommt. So scheint für ihn völlig unglaublich, dass seine Ex-Freundin (und außerdem ehemalige Junkie-Gefährtin) jetzt heiratet. Dass sie obendrein ihre Drogensucht überwunden hat, ist zweitrangig, das ist der längere historische Prozess, den Dunne im Hochzeitstermin verdichtet sieht. Dieses Festklammern an Zahlen und Daten, das ist für ihn vor Allem Wunschdenken. Den Absprung von der Sucht schafft er nicht, stattdessen wartet er auf das Ereignis, das ihm die Arbeit abnimmt.

„What is change?“ – zum Beispiel die sich leise aufbauende Beziehung zu Drey, dieses minimale und zaghafte gegenseitige Helfen, obwohl beide sich vor Allem nicht helfen lassen wollen. „Half Nelson“ ist in seiner unglaublichen Kompaktheit genau ein solches Ereignis, auf das Daniel so verzweifelt wartet. Am Ende des Films erzählt er Drey einen Witz, einen katastrophal schlechten obendrein. Beide lachen, und es wird Zeit für den Abspann.

Half Nelson
USA 2006
Regie: Ryan Fleck
Buch: Ryan Fleck, Anna Boden
Kamera: Andrij Parekh; Schnitt: Anna Boden; Musik: Broken-Social-Scene
Mit: Ryan Gosling, Shareeka Epps, Anthony Mackie, u.v.m.
Verleih: Arsenal Filmverleih
Kinostart: noch kein deutscher Starttermin

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