Euphoria vacui

Kommen Wissenschaftler in ein gesetztes Alter, so widmen ihnen Freunde, Kollegen und vor allem Schüler Sammelbände, die unter dem Begriff „Festschrift“ firmieren. Anlässe für solche Festschriften sind zum Beispiel runde Geburtstage oder das offizielle Ende der akademischen Karriere, die Emeritierung. Die Rückbindung an einen äußerlichen Anlaß führt nicht selten dazu, dass den Festschriften eine klare inhaltliche Linie fehlt. So kommt es vor, daß die angefragten Autoren, die sich der Pflicht der Würdigung des Freundes, Kollegen oder akademischen Lehrers nicht entziehen wollen, das abliefern, was sie ohnehin gerade ‚auf der Pfanne‘ haben. Zusammengehalten wird das Ganze dann von der vagen Vorstellung, das Mitgeteilte habe in irgendeiner Form mit dem Schaffen des Geehrten zu tun. Konvolute der genannten Art werden im Branchenjargon als „Aufsatzgräber“ bezeichnet. Der Ausdruck läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Die Festschrift bleibt reine social gesture. Die inhaltliche Relevanz der Beiträge tritt dahinter zurück. (Und in der Bezeichnung versteckt sich auch ein Imperativ, der die Diagnose zur selffulfilling prophecy macht: Verstecke bloß nicht deine besten Gedanken in einer Festschrift, die eh niemand liest!)

Cover AuslassungenZum sechzigsten Geburtstag von Hartmut Böhme, eines der eminenten Repräsentanten deutscher Kulturwissenschaft (im Singular), haben Natascha Adamowsky und Peter Matussek unter dem Titel [Auslassungen]. Leerstellen als Movens der Kulturwissenschaft eine Festschrift herausgegeben, die sichtlich kein solches „Aufsatzgrab“ sein will. Die Herausgeber haben für den Band ein (übrigens auf Matusseks Homepage nachlesbares) Konzept entwickelt, das an wesentliche Schnittstellen von Böhmes Schaffen andockt und zugleich hinreichend flexibel ist, um den immerhin 42 Beiträgern aus den unterschiedlichsten Bereichen Raum für eigene Akzente zu lassen. So wird der Gefahr von Beliebigkeit vorgebeugt und ein – wenn auch dünner – roter Faden geknüpft, ohne dass die Herausgeber den Beiträgern über Gebühr die Feder führen.

Kulturwissenschaft, so die konzeptuelle Vorüberlegung, ist genuin dadurch charakterisiert, dass sie inter- und transdisziplinär orientiert ist. Ja, mehr noch: Kulturwissenschaft ist ein ‚undiszipliniertes‘ Unterfangen, sie geht den „mäandernden Grenzlinien und Zwischenräumen“ nach, „die die disziplinär orientierte Kartographie des Wissens bei ihren Feldbestellungen zurückläßt“. Auslassungen – so ja auch der Titel des Sammelbandes – sind es, die die Kulturwissenschaft interessieren und motivieren. Diese produktiven Lücken werden in drei Perspektiven in den Blick genommen: als „Zwischenräume (Auslassungen im topologischen Sinne)“, als „Unterbrechungen (Auslassungen im temporalen Sinne)“ und als „Abundanzen (Auslassungen im performativen Sinne)“.

Soweit das Konzept, das den Beiträgern ein weites „Assoziationsfeld“ eröffnet, das diese in höchst unterschiedlicher, aber überwiegend interessanter Weise bestellen. Bei der schieren Menge von Beiträgen ist die Heterogenität aber auch durch das durchdachte Konzept nur bedingt zu bändigen. Manche Beiträge fügen sich mehr schlecht als recht in den vorbereiteten Rahmen ein (was den Verdacht nahelegt, dass hier vielleicht die Schublade bemüht wurde) oder verbleiben im bloß Anekdotischen. Die Mehrzahl der 42 Beiträge aber – dafür bürgen schon gewohnt souveräne Autoren wie Gernot Böhme, Thomas Macho oder Dieter Thomä – zeigen Kulturwissenschaft in all ihrer Vielfalt und bieten dem Leser zahlreiche Anknüpfungspunkte. Der Mut zur Lücke, die euphoria vacui, zahlt sich aus, die Hommage an Hartmut Böhme ist eine gelungene. Nicht zuletzt ist der Band auch in seiner Aufmachung, sowohl im Hinblick auf den Umschlag als auch das Layout, höchst ansprechend gestaltet.

Natascha Adamowsky/Peter Matussek (Hrsg.)
[Auslassungen]. Leerstellen als Movens der Kulturwissenschaft
Festschrift für Hartmut Böhme zum 60. Geburtstag
Würzburg: Königshausen & Neumann 2004
ISBN 3-8260-2824-4
29,80 €

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Patrick Baum

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