Drei Punkte nach der Sexualtheorie

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte der Psychoanalyse wird durch zweierlei erschwert: Zum ersten durch die Tatsache, dass die wesentlichen Paradigmen der Theorie nicht falsifizierbar sind – was die Psychoanalyse zu einer Art Metaphysik der Seele macht; zum Anderen dadurch, dass deren Begründer Sigmund Freud die Psychoanalyse wie eine Religion gegründet und verbreitet hat: Eine eigene Schule mit Eingeweihten und Exkommunizierten, für Wissenschaften der unübliche Verbreitungsweg. Diese beiden Tatsachen sind der Grund dafür, dass die Psychoanalyse innerhalb der Psychologie sehr kontrovers diskutiert wird. Kritische Diskussionen und Einführungen scheinen also notwendig, um zu klären, wo die speziellen Leistungen und Schwächen der Theorie sind.


Der emeritierte Bamberger Psychologie-Professor Herbert Selg hat vor kurzem im Kohlhammer-Verlag eine circa einhundertseitige Freud-Biografie mit dem Titel „Sigmund Freud – Genie oder Scharlatan? Eine kritische Einführung in Leben und Werk“ vorgelegt. Der Text kommt in einer stilistischen Nüchternheit daher, die den Widerwillen des Autoren gegenüber seinem Gegenstand schon im Voraus ahnen lässt. Und in der Tat: Selg ist ein vehementer Gegner der Psychoanalyse. Ihre Wissenschaftlichkeit (gemessen am Popper’schen Kriterium der notwendigen Falsifizierbarkeit von Theorien) zieht er nachdrücklich und wiederholt in Frage. Er untersucht ausgewählte Schriften und Fallstudien Freuds (intensiv die von „Anna O.“ und die vom „Wolfsmann“) und weist deren Falschheit und Versagen (als Therapieform) nach. Doch bei der methodologischen Kritik belässt es Selg nicht.

Sein „Verriss der Psychoanalyse“ wirkt unangenehm persönlich, wenn er versucht, die Ablehnung gegen die Theorie auf deren Begründer zu übertragen: Neben dem Vorwurf, Freud hätte hinter wortgewandtem Stil und apodiktischen Formulierungen das Religiöse der Psychoanalyse zu verbergen versucht, interpretiert Selg die Biografie des Wiener Psychologen schon fast als die eines Verbrechers: So muss sich Freud posthum gefallen lassen, von Selg vorgeworfen zu bekommen, er spreche sich für den Krieg, für Aggression, für die Rechtfertigung von Vergewaltigung und für Kindesmissbrauch aus und hätte billigend den Tod seiner vier Schwestern unter der Naziherrschaft in Kauf genommen, sich antisemitisch verhalten, ja, sogar mit den Nazis paktiert, indem er den Juden ihre wichtigste Identifikationsfigur – Moses – demystifiziert hat und mit seiner Aggressionstheorie deren Verhalten gebilligt habe („Reagierten die Nazis im Zweiten Weltkrieg auch die Aggressionen ihrer Opfer und der tatenlos zusehenden Deutschen ab? Freuds Antwort müsste wohl ‚ja’ lauten“, S. 87). Selg wird nicht müde, diese Vorwürfe immer und immer zu wiederholen, weswegen es dem Leser schwerfällt, seinen Kommentar über die Bücherverbrennungen der Nazis als Ironie zu verstehen: „In Berlin geschah das mit den wohlgeformten Worten: ‚Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften des Sigmund Freud.’“ (Diese „wohlgeformten Worte“ muten gerade deshalb nicht ironisch an, weil Selgs Kritik an der Psychoanalyse inhaltlich dieselbe ist!)

Der Autor verstrickt sich bei all seiner Animosität gegen Freud und sein Werk in Widersprüche, methodische Fehler und unwissenschaftliches Vorgehen. Es ist ihm scheint’s egal, wie er selbst als Denker dasteht; Hauptsache, dass er sich an der Psychoanalyse abarbeiten kann: So wirft er der Traumsymbolik Freuds vor, dass sie beliebig sei, wenn sie ein Traumbild als eine Sache oder auch ihr Gegenteil verstehen könnte, interpretiert Freuds Gleichgültigkeit angesichts des nicht erhaltenen Nobelpreises jedoch als Ausdruck für ihr Gegenteil: Neid. Überhaupt deutelt Selg mehr, als es einem wissenschaftlichen Text gut tut: Ständig versucht er Freud sexuelle Übergriffe an seinen Patientinnen und Familienmitgliedern nachzuweisen, spricht dies jedoch nie aus, sondern deutet an und beendet seine Andeutung jeweils mit „…“ (anzumerken wäre hier, dass im ganzen Buch wohl über hundert Sätze mit „…“ enden – eine Lückenhaftigkeit die nicht einmal der Psychoanalyse bedarf um als sinnleere Lästerei verstanden zu werden.)

Freuds Theoriegebäude stellt Selg – zwar mit zahlreichen Zweifeln und missbilligenden Kommentaren versehen, doch immerhin fast vollständig – dar, indem er sich auf zentrale Schriften beruft. Mit Vorliebe wählt er jedoch die strittigen und kritisierten: So bezieht er sich bei Freud als Kulturtheoretiker einzig auf seinen Text „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ und – mann muss es schon so nennen – reitet gnaden- und endlos auf dem lange bekannten Übersetzungsfehler „nibbio – Geier“ herum. Wesentlich wichtigere und nachhaltig anerkannte Schriften zur Ästhetik und Kulturtheorie („Notzien über den Wunderblock“, „Das Unheimliche“) lässt er unter den Tisch fallen. Anstelle dessen beruft er sich immer wieder auf die zurückgehaltenen Schriften des Freud-Nachlasses und nutzt die Anführungszeichen ununterscheidbar mal als Zitat- mal als uneigentliche Rede (oft genug scheinbar zur bewussten Verschleierung seiner Anschuldigungen an Freud als deren Autor – siehe obiges Zitat der S. 87!)

So muss als Fazit leider stehen bleiben, dass Selgs Schrift nicht nur nicht als Einführung, sondern nicht einmal als kritische Einführung Bestand haben kann. Man braucht kein Befürworter oder gar Anhänger der Psychoanalyse zu sein, um die gravierenden Mängel des Textes und „Probleme“ des Autoren zu erkennen. Der Eindruck, dass Selg eine Art Frust in seinem Text abarbeitet, drängt sich selbst dem unbedarften Leser auf und wird noch dadurch verstärkt, dass der Entwicklungspsychologe an allen passenden und unpassenden Stellen seine Kritik an der Mediengewalt in die Freud-Biografie einfließen lässt: So kommentiert er beispielsweise den Kampf zwischen Ödipus und Laios mit: „Man griff zur rohen Gewalt, als hätte man zu viele Film- und Fernsehproduktionen des 20. Jahrhunderts gesehen.“ (S. 36) und enthält sich auch bei der Vorstellung von Freuds Katharsis-Theorie nicht entsprechender Anmerkungen. (vgl. Fußnote 32, S. 113).

Am Ende steht der Leser vor einem Text, den er nicht ernst nehmen kann, weil dessen Autor nicht in der Lage ist, seinen Gegenstand nüchtern zu betrachten. Selg erkennt weder die kulturtheoretischen noch die psychologischen (zwar gesteht er in der Fußnote 174 der Psychoanalyse zu: „Ob man will oder nicht: Die Psychoanalyse ist eine psychologische Theorie“, S. 117 – ironischerweise fehlt diese Fußnote im Text selbst.) noch die therapeutischen Leistungen der Psychoanalyse an, hat aber auch die Chance verpasst, seine Kritik nachvollziehbar, ja, sogar rational verstehbar zu gestalten.

Herbert Selg
Sigmund Freud – Genie oder Scharlatan?
Eine kritische Einführung in Leben und Werk
Stuttgart: Kohlhammer 2002
126 Seiten (Paperback)
15,00 Euro

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