Digitales Zwergobst

Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Berlin: Directmedia 2003

Die Berliner Directmedia Publishing GmbH gibt seit einigen Jahren in der Reihe „Digitale Bibliothek“ CD-ROMs heraus, auf denen in denkbar komprimierter Form Bestände der abendländischen Kultur- und Geistesgeschichte versammelt sind. Eins ihrer ersten Produkte war die Sammlung (nicht mehr Copyright-geschützter) Texte der Philosophie von Platon bis Nietzsche. Seitdem ist das Programm stetig erweitert worden und umfasst beispielsweise Werkausgaben von Nietzsche, Max Weber oder Karl May. Vor kurzem ist das philosophische Programm der Digitalen Bibliothek um einen saftigen Brocken erweitert worden: Pünktlich zum 100. Geburtstags Theodor W. Adornos liegt nun auch die 20bändige Ausgabe der Gesammelten Schriften des Philosophen, Soziologen und Musiktheoretikers auf CD-ROM vor.

Einer der ins Auge springenden Vorteile digitaler Ausgaben von Printmedien liegt in der ungeheuren Platzersparnis: Was – im vorliegenden Fall – noch in der Taschenbuchausgabe etwa 60 Regalzentimeter in Anspruch nimmt und auch einiges wiegt (von der Hardcover-Ausgabe gar nicht zu reden), nimmt nunmehr in einem CD- oder DVD-Case höchstens einen einzigen Regalzentimeter ein. Zudem stellen die elaborierten Suchfunktionen digitaler Ausgaben wertvolles Handwerkszeug für die Textarbeit bereit. Was man früher in mühevoller Kleinarbeit heraussuchen musste, wird jetzt innerhalb von Sekunden bequem tabellarisch aufgelistet. So kann sich der Benutzer durch Stichwortsuche die Rosinen aus dem umfangreichen Gesamtwerk picken und findet vielleicht Lesefrüchte – oder „Zwergobst“ wie Adorno seine kleinen, gedrechselten Aphorismen in den Minima Moralia nennt –, die vorher vielleicht nur dem Aficionado bekannt waren, der seinen Adorno aus dem Effeff kennt.

Allerdings liegen auch die Nachteile auf der Hand: Software braucht Hardware; man kann sich seinen Adorno, so man denn nicht glücklicher Besitzer eines Laptops ist, nicht einfach zum Lesen mit in den Park nehmen. Überdies fehlen einer digitalen Ausgabe die besonderen taktilen Eigenschaften, die man als Leser so lieb gewonnen hat – ein Manko, das wohl auch durch einen ledereingebundenen PDA, der sich so gibt als wäre er ein ‚echtes’ Buch, nicht ohne weiteres aufzuwiegen ist. Kurzum: Digitale Ausgaben sind platzsparende Alternativen, die – qua Suche – einen punktgenauen Zugriff auf den Text erlauben, aber zum Schmökern laden sie nicht unbedingt ein.

Die CD-ROM wurde in Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag erstellt und liefert den Text der gedruckten Werkausgabe, nach der auch aus der elektronischen Ausgabe zitiert werden kann, da sowohl Seitenzahlen als auch Seitenumbruch der Printausgabe angezeigt werden. Als zusätzliches Schmankerl wurden Texte aus den Frankfurter Adorno Blättern integriert. Die ultimative Werkausgabe ist es dennoch nicht geworden, da immer noch Adorno-Texte fehlen, so das Libretto zu seinem Singspiel „Der Schatz des Indianer-Joe“, das 1979 in einer (unterdes vergriffenen) Sonderausgabe vorgelegt wurde, aber nicht in den Gesammelten Schriften enthalten ist. Gleichwohl: Für denjenigen, der wissenschaftlich über Adorno arbeitet, ist diese CD-ROM ein wichtiges, bald wohl unentbehrliches Hilfsmittel. Auch der gelegentliche Adorno-Leser, so er denn gern in elektronischen Ausgaben schmökert und eine Werkausgabe braucht, ist mit ihr gut bedient, denn die gedruckte Fassung ist, auch im Taschenbuch, deutlich teuerer. So fällt es leicht eine klare Kaufempfehlung auszusprechen.

Theodor W. Adorno
Gesammelte Schriften
hrsg. v. Rolf Tiedemann u. a.
Berlin: Directmedia 2003 (CD-ROM)

Patrick Baum

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