Die Gegenwart gibt es nicht

Die Gegenwart, sagt Godard, kommt im Kino nicht vor, außer in den schlechten Filmen. Gilles Deleuze erweitert dieses etwas enigmatische Diktum in seiner Kinotheorie zu einem Modell, dem zufolge die Gegenwart im Kinobild sich in zwei Strahlen aufspalte, deren einer zu den Vergangenheiten und deren anderer zu den Zukünften führt, mit denen sie nicht linear verbunden sind, sondern die sie als Potenzialitäten in sich tragen. Die Gegenwart kann folglich nicht existieren, ohne im gleichen Moment bereits als zukünftige Vergangenheit gedacht zu werden. Deleuze konkretisiert diesen Gedanken in einem an Bergsons Zeittheorie angelehnten doppelten Kegelmodell, in dem jeder Zeitabschnitt einen beweglichen Schnitt markiert und die Gegenwart den Ort der größtmöglichen Verengung darstellt – ohne jemals wirklich Punkt sein zu können. Dieses Modell nähert das Kino dem Augustinischen Gedanken einer „Gegenwart des Vergangenen, Gegenwart des Gegenwärtigen und Gegenwart des Zukünftigen“ an und zielt darauf ab, so Deleuze, das, was vor und nach dem Film ist, ins Innere des Films zu versetzen und so die einfache, sukzessive Verkettung vorüberziehender Gegenwarten aufzusprengen.

Rudolf Thome freilich hat seine Trilogie „Zeitreisen“ an der Oberfläche noch fein säuberlich unterteilt, in Vergangenheit („Rot und Blau“, 2003), Gegenwart („Frau fährt, Mann schläft“, 2004) und Zukunft („Rauchzeichen“, 2006). Das mutet zunächst simpel, schlicht, ein wenig konservativ an, doch so einfach beträgt es sich damit nicht. Überhaupt ist nichts so richtig simpel an Thomes so beiläufig anmutenden Kinoerzählungen. Eher ist es so, dass man seine Filme niemals so richtig zu greifen bekommt, nie so ganz versteht, wo genau nun eigentlich Ironie, Melodram und Studie aneinander grenzen. Aber greifen wir nicht vor, sondern werfen zunächst einen Blick auf die Plots der drei Filme.

Der Auftakt der Trilogie, „Rot und Blau“, erzählt im Grunde eine dramatische Mutter-Tochter-Geschichte: Barbara Bärenklau (Hannelore Elsner) ist Architektin, sanfte Alkoholikerin, durchaus liebevolle Mutter von zwei Kindern, die sie mit ihrem etwas stoffeligen Mann Gregor (Karl Kranzkowski) aufzieht. Am Anfang sieht man sie im verwilderten Garten ihres Landhauses, in einem großen Feuer allerlei Habseligkeiten verbrennend. Ein Schlussstrich soll hier offenbar gezogen werden, worunter, das werden wir nie so genau erfahren. (Überhaupt ist die Ellipse für Thomes Erzählen von grundlegender Bedeutung.) Barbara macht vor allem den Eindruck einer zutiefst resignierten Frau – das Leben, das sie sich wünscht, liegt in weiter Ferne und vielleicht auch unter Schichten von Vergangenheit begraben, und das Leben, das sie führt, das scheint an ihr vorbei zu laufen, ohne sie überhaupt zu berühren. Dann jedoch tritt Ilke (Serpil Turhan) in ihr Leben und mit ihr die Erinnerung an ein früheres Leben. Da war Barbara die Frau eines inzwischen verstorbenen türkischen Teppichhändlers, der sie schließlich mitsamt der gemeinsamen Tochter verließ. Zwanzig Jahre lang haben sich Mutter und Tochter nicht gesehen, und massig Potenzial für dramatische Konflikte tut sich auf.

Aber weit gefehlt: An einer bittersüßen Familienzusammenführungsgeschichte voll zermürbender Aufarbeitungen ist Thome gerade nicht gelegen. Vielmehr scheint es so, dass die Konflikte, die im Plot angelegt sind, unter der Oberfläche schwelen und dann oft irgendwann geradezu magisch weggeblasen scheinen, statt im Ausbruch Dominanz über die Filmerzählung zu erringen. Barbara und Ilke müssen zunächst einige Dinge aussprechen, aber nichts zerreden. Und in einem Augenaufschlag ist dann die Annäherung geschehen, und der Film kann sich anderen Begegnungen zuwenden. So etwa der zwischen Barbara und Samuel (Hanns Zischler), jener nie so ganz vergessenen Jugendliebe, die – als Detektiv in einem etwas verqueren Krimi-Subplot, der wie aus einem anderen Film gefallen erscheint – gemeinsam mit Ilke wieder in Barbaras Leben auftaucht. Für einen Moment entspinnt sich nun eine Art Dreiecksliebschaft, die jedoch auch nicht wirklich mit Spannung aufgeladen wird. Die Eskalation auf Barbaras Geburtstagsfeier – inszeniert im Miniaturformat – ist dann auch weder dramatischer Höhe- noch entscheidender Wendepunkt, sondern eher eine Verdichtung neben anderen im Fluss des Geschehens, in dem sich die Strömungen von Vergangenheit und Gegenwart so weitgehend vereinigen, dass der Zuschauer schließlich ohne wirkliche Aktualisierung auf eine eindeutige Zukunft hin in den Abspann entlassen wird.

Alles ist Gegenwart, oder: Die Gegenwart gibt es nicht, muss also die Schlussfolgerung aus „Rot und Blau“ lauten. Interessant dürfte somit die Frage sein, wie Thome sich jenem Teil seiner Trilogie annähert, der sich explizit mit der Gegenwart beschäftigt. Tatsächlich ist dann „Frau fährt, Mann schläft“ (2004) auch der interessanteste Film des Zyklus geworden, der auch das Konzept Thomes deutlich vor Augen führt: Immer wieder um das gleiche Personal soll es gehen, und um ähnliche Konstellationen, jedoch nicht im Sinne einer fortlaufenden Erzählung. Vielmehr werden Motive immer wieder aufs Neue aufgegriffen von einem Figurenensemble, das sich eher ineinander spiegelt und variiert, als wirklich identisch zu sein. Um eine nicht mehr so ganz funktionale Familie geht es hier („Frau fährt, Mann schläft“) wie dort („Rot und Blau“) – auch wenn diese anfangs in einer TV-Talkshow noch behauptet, die „glücklichste Familie Deutschlands“ zu sein. Blanker Hohn, das spricht von Beginn an aus jedem Bild. Die Ehe jedenfalls zwischen Sue Süssmilch (Hannelore Elsner) und Anton Bogenbauer (Karl Kranzkowski) ist ebenso ausgelaugt und erkaltet wie die zwischen Barbara und Gregor im früheren Film.

Erneut gibt Hanns Zischler den Liebhaber, während Anton im Gegensatz zu Gregor nicht mehr nur hilflos in Zügen flirtet, sondern gar als notorischer Fremdgänger gezeichnet ist. Die Situation also, die am offenen Ende von „Rot und Blau“ noch invariabel und in ihrer Zeitlosigkeit nachgerade eingemauert erschien, scheint sich in der ersten Stunde von „Frau fährt, Mann schläft“ nahtlos fortzusetzen. Dem Topos angemessen, ist dann diese Hälfte des Films auch die am Nachdrücklichsten zersplitterte im Rahmen der Trilogie: Eine Gegenwart gibt es hier nicht, sondern wenn überhaupt, dann nur unzählige. Jeder Protagonist erhält hier seinen eigenen Handlungsstrang, ein Fokus der Erzählung ist zunächst kaum auszumachen. Bis dann schließlich doch das radikale Jetzt in den Film einbricht – auf eine höchst interessante Weise. Die Gegenwart ist nämlich für Thome offenkundig nur in der Lücke denkbar, die hier der plötzliche Tod des Sohnes Thomas reißt. Dieser stellt dann auch einen Umschlagpunkt des Filmes dar, an dem plötzlich Sue zur aktiv handelnden Protagonistin ihres eigenen Lebens wachsen kann – die sich am Ende, wiederum interessanterweise, nicht einmal für den auf halber Strecke aus dem Film gefallenen Sven (Zischler) entscheidet, sondern zunächst einmal gegen Anton und für sich selbst, bevor sie in der Weißblende der Credits verschwindet, und somit auch ein bisschen im Nichts. Die Abwesenheit, das Abhandenkommen als Gegenwartsmarker – wer erinnert sich in diesem Zusammenhang nicht daran, mit welch gigantischem Getöse der Einsturz der Posthistoire mit den Türmen des World Trade Center verkündet wurde?

Vielleicht gar nicht so zufällig erscheint in diesem Zusammenhang das Aufblitzen des Terrorismus-Topos in „Rauchzeichen“ (2005), dem Abschluss der Trilogie und Ausblick in die Zukunft. Ein bisschen an stereotypen Selbstfindungskitsch nicht nur amerikanischer Provenienz erinnert zwar die sardinische Idylle schon, die Thome hier aufmacht – doch versteckt sich auch hier die Ironie in allen Winkeln. In den Fokus des Geschehens tritt nämlich hier mit „Joe aus Florida“ (Kranzkowski) ein waschechter Deutsch-Amerikaner, eine Art untoter Wiedergänger der amerikanischen Phantasten im Neuen Deutschen Kino der prätentiöseren Wenders-Schule. Dieser taucht wie ein Außerirdischer im Gasthaus von Isabella Silberstein auf – an jenem Ort, wo „Frau fährt, Mann schläft“ sein je nach Sichtweise glückliches oder pessimistisches Ende nahm –, um dort seine verlorene Tochter Moon (bzw. Jade) kennen zu lernen. Zwischen Annabella und Jo(nathan) entwickelt sich eine heftige Liebesgeschichte, und die Einfahrt in den Hafen der Ehe auf dem brachial in die wunderbare Landschaft gebaggerten Zierteich verzögert sich schließlich nur durch – erneut – zwei Todesfälle. (Unter den Opfern der Weichenstellung auf die Zukunft hin verbirgt sich, neben der geläuterten Terroristin Leila, auch der heruntergekommene Cinéast und selbsternannte „Gott des Kinos“ Hans – auch dies wohl zu verstehen als ein sarkastischer Seitenhieb auf die narzisstische Selbstbespiegelungssucht des Neuen Deutschen Films.)

In Thomes Variation auf die Zukunft, so konservativ sich diese zunächst darstellen mag, gibt sich schließlich selbst der Tod relativ. Ein Augenblick der Verdichtung, aber eben nur einer. Der Fluss der Zeit freilich ist hier, sicher nicht zufällig, domestiziert zum Zierteich – ein grandios ambivalentes Bild, das die letztendliche Biederkeit der dargebotenen Zukunftsperspektiven ironisch auflädt, ohne damit freilich so ganz zu brechen. Vielmehr tut sich hier ein Intervall auf – Deleuze zufolge bestimmendes Strukturelement des modernen Kinos des image-temps –, ein Freiraum zwischen den Bildern, hinter den Bildern, der die eigentümliche Luftigkeit der Werke des im Grunde perfektionistisch arbeitenden Filmemachers Thome ausmacht. Ein sich niemals so ganz entladendes Spannungsverhältnis zwischen Ironie und Einfühlung, in das die Filmbilder eintreten.

„Nur aus Distanz ist Erkenntnis möglich“, dieses Zitat des Philosophen Georg Picht zieht sich durch die „Zeitreisen“, und doch: Auch das ist nur eine Seite der Medaille. Wie in einem Thaumatrop oszillieren die Bilder, der Vogel der Einfühlung im Käfig der Ironie. Unter den Autorenfilmern des gegenwärtigen deutschen Kinos verfügt Thome über eine der individuellsten Handschriften – eine ganz unverwechselbare, so leichtfüßig daherkommende wie letztendlich konstruierte Ästhetik des Immer-Ganz-Leicht-Daneben. Neben den Figuren, neben der Ereignissen, neben den Schlussfolgerungen. Und so kann dann seine Trilogie nach beinahe sechs Stunden auch im Grunde nur auf eine angemessene Art enden, nämlich in der knappen Frage: „Und dann?“

Rudolf Thome: Zeitreisen

Rot und Blau
(Deutschland 2002)
Regie: Rudolf Thome; Buch: Rudolf Thome, Peter Lund; Musik: Wolfgang Böhmer; Kamera: Michael Wiesweg; Schnitt: Dörte Völz
Darsteller: Hannelore Elsner, Karl Kranzkowski, Serpil Turhan, Hanns Zischler, Adriana Altaras, Bastian Trost, Joya Thome, Nicolai Thome u.a.
Länge: 109 Minuten
Verleih: Arthaus/Kinowelt

Frau fährt, Mann schläft
(Deutschland 2003)
Regie: Rudolf Thome; Buch: Rudolf Thome, Peter Lund; Musik: Katia Tchemberdji; Kamera: Michael Wiesweg; Schnitt: Dörte Völz
Darsteller: Hannelore Elsner, Karl Kranzkowski, Serpil Turhan, Hanns Zischler, Bastian Trost, Joya Thome, Nicolai Thome u.a.
Länge: 116 Minuten
Verleih: Arthaus/Kinowelt

Rauchzeichen
(Deutschland 2005)
Regie & Buch: Rudolf Thome; Musik: Katia Tchemberdji; Kamera: Ute Freund; Schnitt: Dörte Völz Mammarella
Darsteller: Hannelore Elsner, Karl Kranzkowski, Serpil Turhan, Adriana Altaras, Hansa Czypionka, Joya Thome, Nicolai Thome u.a.
Länge: 120 Minuten
Verleih: Arthaus/Kinowelt

Die DVD-Edition von Arthaus/Kinowelt

Die 3-DVD-Edition kommt, wie aus dem Hause Arthaus nicht anders gewöhnt, in sehr ansehnlicher Qualität daher. Das Bild wie der Stereoton sind klar, aus dem Bonusmaterial stechen die drei interessanten Interview-Featurettes mit Rudolf Thome heraus, und schlussendlich hat man der Edition gar – bei Veröffentlichungen deutschsprachiger Produktion immer noch viel zu selten – englische Untertitel spendiert.

Die Ausstattung der DVD-Edition im Einzelnen:

Bild: 1,85:1
Ton: Deutsch (Dolby Digital Stereo)
Untertitel: Englisch
Extras: 3 Interviews mit Rudolf Thome (insg. ca. 120 Minuten), Trailer, Fotogalerien, Presseheft als PDF
FSK: o.A. (Rot und Blau), ab 12 Jahren (Frau fährt, Mann schläft), ab 6 Jahren (Rauchzeichen)

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Jochen Werner

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