Wir sehen tote Menschen

Er zählt bereits zu den modernen Klassikern des Mystery-Thriller- und Horrorfilms, der erste „typische“ Film des indischstämmigen Regisseurs M. Night Shyamalan. Mit „The Sixth Sense“ hat Shyamalan eine Handschrift gefunden, die er für die darauf folgenden drei Filme „Unbreakable“ und „The Village“ beibehalten und weiter ausdifferenziert: Seine Filme erzählen bis zu einem bestimmten Punkt traditionelle Grusel-Geschichten, wenden die Perspektive auf die Story jedoch in einem „Plottwist“ und zeigen daraufhin, dass wir, die Zuschauer, alles ebenso falsch gesehen haben, wie die Protagonisten. Einzig „Signs“ bildet hiervon eine Ausnahme, ähnelt den anderen drei Filmen jedoch in anderer struktureller Hinsicht. In „The Sixth Sense“ ist es noch „nur“ die Charakterisierung der Hauptfigur, die sich im Plottwist wandelt. Die späteren Filme entwerfen Erzählungen, die weit großere Verschwörungen darstellen.

In „The Sixth Sense“ spielt Bruce Willis den erfolgreichen Kinderpsychologe Dr. Malcolm Crowe, der Zugang zur neurotischen Welt des kleinen Cole (Haley J. Osment) finden will. Cole hat fürchterliche Angst, glaubt, er wird verfolgt und gerät deshalb immer wieder in Konflikt mit seinen Lehrern, Mitschülern und der ihn allein erziehenden Mutter Lynn (Tori Colette). Für den Psychologen ist schnell klar, dass der Junge eine Vater-Figur vermisst und dies in seinem extremen Verhalten ausdrückt. Doch bei Malcolm selbst hängt der Familiensegen ebenfalls schief, seitdem er von einem ehemaligen Patienten in seiner eigenen Wohnung überfallen und angeschossen wurde. Seit diesem Vorfall distanziert sich Malcolm immer mehr von seiner Frau Anna (Olivia Williams). Sie reden aneinander vorbei, Anna ist depressiv und Malcolm flüchtet immer häufiger und zu immer ungewöhnlicheren Zeiten in seine Arbeit. Der Fall des kleinen Cole wird zu einer Lebensaufgabe für ihn, bis er erfährt, wovor sich der Junge wirklich fürchtet: „Ich sehe tote Menschen“, behauptet er und von da ab ist dem Psychologen klar, dass dem Kind eigentlich nur noch Medikamente und eine psychiatrische Behandlung weiterhelfen können.

Soweit erzählt „The Sixth Sense“ einen zwar ungemein fesselnden und streckenweise extrem gruseligen (wir sehen, was der Junge sieht), aber dennoch recht konventionellen Geisterfilm-Plot. Der Wendepunkt des Films – und das darf man aufgrund seines Alters und seiner Bekanntheit wohl verraten – ist jedoch, als Malcolm entdeckt, dass auch er zu jenen Toten gehört, die der Junge sehen kann. Er wurde bei dem Überfall erschossen und seine Frau, zu der er jeden Tag nach getaner Arbeit zurückkehrt, ist nicht etwa depressiv, sondern in Trauer um ihn – er sieht sie zwar, sie ihn jedoch nicht. Ab dem Punkt des Films, wo dies klar wird, sind Malcolm und der Zuschauer gezwungen, das bereits Ges(ch)ehene neu zu bewerten. Anders als viele jüngere Filme, die einen ähnlichen „Deus ex machina“ präsentieren, führt „The Sixth Sense“ uns nun aber nicht alle Schlüsselmomente, die wir zuvor „falsch“ verstanden haben, noch einmal per Rückblende vor Augen, sondern lässt uns allein mit dem neuen Wissen und entlässt uns damit in ein ganz anderes Drama. In diesem spielen zwar auch noch Geister die Hauptrolle, doch sind es jetzt keine Schreckensgestalten mehr, sondern Wesen, die um ihren Tod nicht wissen und deshalb noch unter den Lebenden wandeln.

Dass es Shyamalan hier so perfekt gelingt, den Bruch als plausibel darzustellen und nicht bloß als erzählerischen Trick, liegt an der Homologie von Film-Erzählung an sich und dem Plot von „The Sixth Sense“. Schaut man sich einen Film aus der Frühzeit des Kinos an, dann sieht man höchstwahrscheinlich ausschließlich mittlerweile tote Menschen. Dieses an sich unheimliche, auf den zweiten Blick jedoch tröstliche Phänomen hat Roland Barthes anhand einer Fotografie seiner verstorbenen Mutter in „Die helle Kammer“ beschrieben. Speichermedien sind immer schon dazu verdammt, Geister zu beherbergen. Sie werden dadurch zu „Medien“ in der zweiten, quasi okkultistischen Bedeutung. Sie versorgen uns mit einem (Über)Sinn, der uns die (wortwörtliche) Vergangenheit nicht bloß erinnernd vor dem geistigen Auge rekapitulieren lässt, sondern sie vor die physischen Sinne zitiert. Von dieser Eigenschaft erzählt „The Sixth Sense“ nicht bloß, er führt sie uns am eigenen Leibe vor. Die Unheimlichkeit der Selbsterkenntnis Malcolm Crowes ist genau jener Zustand, den Barthes beschreibt, wenn er das Foto seiner verstorbenen Mutter anblickt. Die plötzliche, neue Selbstgewissheit ist die eines sich als zeitliches Wesen verstehenden Menschen, der das Leben nicht mehr aus der augenscheinlich unendlichen Binnen-, sondern endlichen Außenperspektive wahrnimmt.

In den folgenden Filmen hat M. Night Shyamalan den Doppelcharakter des Films als Medium der Verunsicherung und Verschleierung auf die Phänomene narzisstischer Selbstüberhöhung („Unbreakable“), Wunderglauben versus Kausalität („Signs“) oder Teilnahme an und Ablehnung der eigenen Kultur („The Village“) ausgeweitet und dabei jeweils weitere originelle Strukturähnlichkeiten zwischen dem Medium Film und den in ihm dargestellten Themen verhandelt. Dass er sich von dieser Art des Erzählens seit „The Lady in the Water“ abgewandt hat und sich – wie ihm von vielen Seiten vorgeworfen wird – nun scheinbar selbst zum Thema seiner Filme macht, ist einerseits zu bedauern, andererseits aber auch schlicht eine Notwendigkeit: Nach vier zueinander recht ähnlichen Filmen ist die Erwartungshaltung der Zuschauer bereits darauf geeicht gewesen, der „ersten Perspektive“ keinen Glauben mehr zu schenken und mit der Interpretation lieber bis zum Plottwist zu warten. „The Sixth Sense“ wirkt trotz dieser Haltung, die man unwillkürlich immer noch einnimmt, wenn man einen Film Shyamalans sieht, nach wir vor sehr „frisch“ erzählt, was wohl auch einer der Gründe dafür ist, dass er nach wie vor zu den populärsten Vertretern des modernen Geisterfilms zählt.

The Sixths Sense
(USA 1999)
Regie & Buch: M. Night Shyamalan; Musik: James Newton Howard; Kamera: Tak Fujimoto; Schnitt: Andrew Mondshein
Darsteller: Bruce Willis, Haley Joel Osment, Toni Collette, Olivia Williams, Donnie Wahlberg u. a.
Länge: 108 Minuten
Verleih: Constantin/Highlight

Die Blu-ray-Disc von Constantin/Highlight

Constantin bedient mit seinen jüngeren Veröffentlichungen auf Blu-ray wie nun auch einige andere Label den „Low Price“-Sektor. Das bedeutet bei den HD-Produkten aus diesem Haus jedoch keine Abstriche in Puncto Qualität und Ausstattung: „The Sixth Sense“ besticht vor allem durch seine reichhaltigen Extras (siehe unten) und das exzellente Mastering. Zwar hat man auf unkomprimierte PCM-/Bitstream- oder 7.1-Tonspuren sowie Blu-ray-2.0-Features verzichtet, dieser Verzicht lässt sich jedoch guten Gewissens durch den Preis von unter 20 Euro rechtfertigen.

Die Ausstattung der Blu-ray-Disc im Einzelnen:

Bild: 1,78:1 (16:9 anamorph), 1080p24
Ton: Deutsch (DTS-HD 5.1), Englisch (DTS-HD 5.1)
Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte
Extras: Reflections from the Set, Hinter den Kulissen, Interviews, Zwischen den Welten (Featurette), Europa Premiere, Darstellerinfos (insg. 142 Minuten)
FSK: ab 16 Jahren
Preis: 19,99 Euro

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