Kill Bill Pt. 1, USA 2003, Quentin Tarantino
Manchmal geschieht es, dass das Gehirn in einem Moment, wo es Informationen aufnimmt, diese im „falschen Gedächtnis“ ablegt: Anstatt sie zuerst im Ultra-Kurzzeitgedächtnis zu speichern, um sie danach selektieren zu können, packt es sie direkt ins Kurzzeitgedächtnis. Dies führt dazu, dass man sich auf eigenartige Weise an das, was man gerade wahrnimmt, erinnert, so, als hätte man es vorher schon einmal wahrgenommen. Diesen Effekt nennt man Déjà Vu. Von einer Art Déjà Vu zehrt auch das postmoderne Kino des Quentin Tarantino, indem es dessen „Verfahren“ invertiert. Tarantino inszeniert Bilder, die in ihrer Gestaltung so archetypisch wirken, dass man meint, man habe sie schon einmal gesehen. Das Charakteristikum seiner Filme – vor allem Pulp Fiction (1992) ist dadurch bekannt geworden – ist ihre Referenz an die Filmgeschichte und zugleich deren konstruktives Aufgreifen und Weiterdenken. War Pulp Fiction hierin noch einem Genre allein verpflichtet (dem Gangsterfilm), so nimmt sich Tarantinos Kill Bill gleich mehrere Genres vor, die sich über die Jahrzehnte im Zuschauergehirn abgelegt haben.
„Kill Bill“ ist nicht nur der Titel des Films sondern zugleich das Projekt der Hauptfigur „Die Braut“ (gespielt von Uma Thurman – einen Namen bekommt die Protagonistin nicht). Diese ist von einem Killerkommando während ihrer Hochzeit in hochschwangerem Zustand zuerst brutal zusammengeschlagen und schließlich vom Anführer Bill (David Carradine) niedergeschossen worden. Der Pfarrer und alle Gäste wurden der Trauung sind ebenfalls Opfer des Überfalls. Bill und seine Truppe hatten zunächst angenommen, dass die Braut tot sei – doch sie überlebt und liegt vier Jahre im Koma. Als sie erwacht, ist sie von dem Gedanken beseelt, sich an jedem einzelnen der vier Täter für den Mord an ihren Hochzeitsgästen und ihrem ungeborenen Kind zu rächen. Der erste Teil von Kill Bill erzählt zwei dieser Rache-Episoden. Die Braut nimmt sich zunächst die Aussteigerin Vernita Green (Vivica A. Fox), die ein beschauliches Kleinfamilienleben lebt, vor. Als zweite – dies macht den Hauptteil des Films aus – soll die japanische Yakuza-Bossin O-Ren Ishi (Lucy Liu) büßen. Hierfür reist die Braut nach Okinawa, lässt sich von einem Meister der Schmiedekunst (Sonny Chiba) ein Schwert herstellen und sucht O-Ren nebst deren Gefolgschaft in Tokyo auf/heim. Doch währenddessen hat Bill vom Rachefeldzug der Braut erfahren und bereitet sich auf die Konfrontation vor.
Kill Bill ist „typisch Tarantino“ – so sehr diese Zuschreibung auch klischeehaft klingen mag. Sowohl technisch als auch erzählerisch bekommt der Zuschauer es mit der Art von Film zu tun, die der Regisseur bereits mit Pulp Fiction inszeniert hat. Doch bei aller Geradlinigkeit im Stil zeigt Kill Bill eine bedeutsame Erweiterung der Formensprache, die er nicht zuletzt der jüngsten Filmgeschichte (der Filmgeschichte seit Pulp Fiction) zu entlehnen scheint. Massen-Kampf-Szenen à la Matrix, Referenzen an Regisseure wie Robert Rodriguez (dessen Formensprache sich im Wesentlichen an Tarantino anlehnt) und Reminiszenzen an das jüngst wieder sehr populär gewordene Martial-Arts-Kino der Hongkonger Shaw-Brothers führen vor, was an Kill Bill „neu“ ist. Doch Tarantino belässt es nicht allein bei Zitat und Anspielung (was ihn denkbar weit von jedem Eklektizismus-Vorwurf entfernt). Vielmehr sind es Szenen, die „so ausgesehen haben könnten“, die der Regisseur hier montiert. Die Montage selbst erhält dabei einen signifikanten Stellenwert in der Narration von Kill Bill.
Denn gewohnt „tarantinoesk“ differieren im Film die Reihenfolge der erzählten Zeit und die Erzählzeit gewaltig. Kill Bill fügt in die Haupthandlung des Films – dem Rachefeldzug der Braut – fußnotenartig immer wieder Sequenzen zur Vorgeschichte der Antagonisten, zum Hergang des Überfalls, also zum Verständnis der Zusammenhänge ein. Das „Zeitmanagement“ Tarantinos ist dabei nicht anders als meisterhaft zu bezeichnen, weil durch diese Umgruppierung auch ein „ästhetischer Fortschritt“ in der Haupterzählung erzielt wird. So nähert sich dieser erste Teil von Kill Bill in dem Maße, wie sich seine Protagonistin Japan annähert allmählich auch ästhetisch dem asiatischen Kino, nachdem in der „Vernita Green“-Episode noch eine Referenz an den amerikanischen Gangsterfilm à la Pulp Fiction stattgefunden hatte.
Und „in Japan“ zieht Tarantino dann alle Register: Zunächst wird die Vorgeschichte O-Rens als Manga-Film eingeschoben, dann, mit dem Eintreffen der Braut in Okinawa, vor allem das Samuraifilm-Subgenre zitiert und schließlich – bei der Schlacht im Tokyoter Teehaus – gleich der Kung-Fu-, Ninja- und Samurai-Film auf einmal aufgegriffen. Diese Anspielungen zeugen jedoch keineswegs von ehrfürchtiger Huldigung. Vielmehr vermischt Tarantino das, was sich aus der Video-Kultur als „das Emblematische“ für die jeweiligen Genres herausgestellt hat und kombiniert es zu einer Art hyper-asiatischem Film, der seine Samurai-Kämpfe vor der Kulisse eines Shaw-Brothers-Films auftreten lässt.
Dem Rhythmus seines Schnitts und der grandiosen Kameraarbeit entsprechend, findet Tarantino immer wieder neue optische Finessen, mit denen er seine Sequenzen würzt. Auf diese Weise wird jeder realistisch-mimetische Effekt konsequent vermieden und der Zuschauer ständig auf einer höheren Ebene der Rezeption gehalten: Dass er einen Film sieht, steht im Zentrum der Ästhetik von Kill Bill. Durch diese Transgressionsarbeit ist die Reaktion des Zuschauers selbst auf die brutalsten Szenen des Filmes (von denen es etliche gibt!) stets dieselbe: Lachen. Ob es die Samurai-Schwert-Amputationen mit meterhoch sprühenden Blutfontänen sind, die Ermordung eines Vergewaltigers durch das Zerquetschen seines Schädels in einer Stahltür oder der fulminante Racheakt an Ren-O kurz vor Schluss des Films: Der Splatter in Kill Bill dient in all seiner Überformung der Reflexion des Zuschauers. Hierin ist Kill Bill vor allem den Splatterfilmen Peter Jacksons ähnlich, dessen Braindead (1992) mit einer ähnlichen Massenhinrichtung aufwartet wie Kill Bill im letzten Drittel.
Keine Frage: Kill Bill will auf hohem Niveau „nicht ernst genommen“ werden. Um diesbezüglich jeden Verdacht zu zerschlagen, konterkariert Tarantino Szenen, die den Anflug von Ernsthaftigkeit evozieren könnten, durch einen Soundtrack, der den „wahren“ Charakter sofort entlarvt. Wenn etwa in einer hoch-melodramatischen Szenen die Braut das Samurai-Schwert des japanischen Schmiedes Hattori Hanzo entgegen nimmt, ertönt überlaut der in Deutschland hinlänglich ob seiner Volksmusiktauglichkeit bekannte Zamfir und schmettert „japanoid“-süßliche Töne aus seiner Pan-Flöte. Wenn im finalen Showdown die Braut und O-Ren zusammentreffen, kommentiert Tarantino dies mit Musik, die einem Italo-Western entnommen worden sein könnte – freilich mit japanischem Gesang, um „authentisch“ zu bleiben.
Dieses insgesamt transgressive Vorhaben des Films fußt schließlich auch darin, dass er zweigeteilt ist. Wäre die Gesamtlänge von Kill Bill wohl mit über drei Stunden von Seiten des Verleihers ein zu großes Wagnis gewesen, hat Tarantino aus der Vorgabe, den Film zu splitten, gleich ein narratives Konzept entwickelt: Der episodenhafte Aufbau bietet Zäsuren an und der abschließende Cliffhanger, der melodramtisch-komischer nicht hätte ausfallen können, fordert geradezu jeden, der Kill Bill Teil 1 gesehen hat, dazu auf, den zweiten Teil auf keinen Fall zu verpassen. Inwieweit diser zweite Teil die Erzählung vorantreibt, kann man sich sicherlich denken, weil man ja alles „irgendwie schon mal gesehen“ hat. Was sich Tarantino allerdings einfallen lässt, um auch die zweite Hälfte von Kill Bill zu einem ästhetischen Hochgenuss werden zu lassen, lässt sich nicht einmal vermuten.
Kill Bill
Teil 1
(USA 2003)
Regie: Quentin Tarantino
Buch: Quentin Tarantino, Kamera: Robert Richardson, Schnitt: Sally Menke: Musik: RZA
Darsteller: Uma Thurman, Lucy Liu, Daryl Hannah, Michael Madson, David Carradine uva.
Länge: 110 Minuten, Verleih: Buena Vista
Stefan Höltgen