CHICAGO

CHICAGO ist – wie sollte es auch anders sein, es handelt sich ja nunmal um ein Musical – ein lustvolles Spiel mit Künstlichkeit und Authentizität. Aber das Schöne (und vor allem: interessante) daran: Der Film bricht die Logik seiner Erzählung nicht allein genretypisch durch plötzlich einsetzenden Gesang und Tanzeinlagen, nein, er erzählt vielmehr anhand einer pfiffigen Doppelung von Erzählung und Musiksequenzen von eben diesen Brüchen und dass Künstlichkeit immer auch aus dem Authentischen heraus geschaffen wird. Dies hat er den – deswegen natürlich nicht schlechten – jüngeren Genre-Vertretern wie DANCER IN THE DARK, dessen Einlagen als eskapistische Traumbilder gezeichnet werden, 8 FRAUEN, der seine Einlagen wiederum als Teil des Authentischen im Inszenatorischen betrachtet wissen möchte, und MOULIN ROUGE, der ein komplett fiktionalisiertes Gebilde darstellt, voraus.

Denn das Thema, sowohl der Geschichte, als auch der Bilder, ist die Lust und Freude an der Performance, an dem überhöhten Schein des Seins und das nicht nur im Sinne der Genre-Konventionen. Das Umdeuten eines Ereignisses – nehmen wir zum Beispiel einen Mord, es bietet sich ja an – in eine lustvolle Neu-Interpretation auf ästhetischer Ebene. Wenn die naive Roxie etwa zu Beginn ihren Liebhaber niederschießt, der ihr – was sich natürlich recht schnell als bloßes Gerede für ungleich niederere Zwecke entpuppt – versprochen hatte, sie mittels seiner guten Beziehungen ins Nachtclubmilieu des Chicagos der 30er Jahre als große Tänzerin rauszubringen, so entsteht in einer blumigen, beinahe schon poetischen Umdeutung dieses Vorgangs durch den Staranwalt Bill Flynn – keinen Prozess verloren bislang! – eine fast schon sentimentale Geschichte rund um ein vom Leben betrogenes Klosterschulenmädchen, welches – vergiftet von der Mischung Jazz, Alkohol und Metropole, vergiftet von der Moderne also überhaupt – einzig und allein in Selbstverteidigung gehandelt habe. Oder wenn „Mamma“ auftritt, diese durch und durch korrupte Aufseherin des Frauengefängnisses, so geschieht dies in einer Parallelmontage, wie überhaupt alle Musicalelemente dergestalt eingeführt, aber auch gebrochen werden: einmal das „naturalistische Ereignis“, das eben ganz im literarischen Sinne der Erzählung „passiert“, dazwischen geschnitten aber eben auch die Umdeutung dieses Ereignisses, in diesem Falle zum schwungvollen wie lasziven Auftritt Mammas als Tänzerin in einem Nachtclub, die von ihrem „way of lilfe“ ein Lied zu singen weiß. Und wenn Flynn mit Roxie, mittlerweile berauscht von der Medienaufmerksamkeit, die sie nun endlich einen Star hat werden lassen, vor die Presse tritt, dann geschieht auch dies auf 2 Ebenen ineinander geschnitten: als witzige Choreographie, in der alle, aber auch wirklich alle als sprichwörtliche Marionetten dem Willen des dubiosen Anwalt ausgeliefert sind, und eben, ganz authentisch, vor dem Gericht in einer Pressekonferenz. Die eine Ebene der Erzählung korrespondiert dabei immer auch, mittels geschicktem Schnitt und Gesangeseinsatz, mit der anderen und umgekehrt. Das eine, das behauptete Ereignis der Storyline, bedingt – ein paar ästhetische Verschiebungen später – das andere, die Kunstwelt, beides durch Montage, Musik und dem gewitzen Hin- und Hergleiten als vom jeweils anderen notgedrungen abhängig gezeichnet. Ein Kommentar also auch dazu, wie Kunst entsteht! „Glaubst Du, was Du siehst oder was ich Dir sage?“, wie es an einer Stelle heißt, Roxie singt an einer anderen: „Not that the truth really matters!“ – beides Schlüsselsätze zum ästhetischen Konzept dieses Films.

Dass bei diesem fortwährendem Gleiten zwischen den Ästhetikebenen auch auf der Erzählebene ganz konkrete medialisierende Prozesse nicht außen vor bleiben dürfen, ist für CHICAGO natürlich so naheliegend wie selbstverständlich. So spielen die Medien, auch im Sinne der Erzählung, eine ungemein wichtige, wenn nicht sogar die tragende Rolle – auch Richard Gere als Superanwalt wäre ohne die Öffentlichkeit schaffende Journaille nichts – im Geschehen. Immer wieder werden wir also Zeuge davon, wie Medienvertreter unterschiedlichster Couleur Wirklichkeiten schaffen, wie sich Ereignisse im Takt der Blitzlichter in Baudrillard’sche Simulakren übersetzen, sich im Diskurs verflüssigen – künstliche Wirklichkeiten also, mediale Epiphänomene! Augenscheinlich wird das dann etwa, wenn eine besonders engagierte Journalistin, Miss Sunshine, das Geschehen im Prozessraum live über den Äther des lokalen Radiosenders kommentiert und dabei das Augenmerk eher auf Roxies Kleidung richtet oder wortgewandt deren gekünstelten Ohnmachtsanfall beschreibt – der Prozess also auch als Performance -, was wiederum in einer Fabrikhalle mittels ein an den Empfänger geklemmtes Mikrofon über die Lautsprecher die Ohren der nach diesen Informationen lechzenden, arbeitenden Bevölkerung erreicht. Oder auch dann, wenn vor dem Gerichtsgebäude junge Straßenverkäufer witzigerweise gleich auf zwei Stapeln mit unterschiedlichen Ausgaben der gleichen Zeitung – „Guilty“ titelt die eine, „Innocent“ die andere – auf das verabredete Zeichen aus dem Gebäude warten, um dann zeitnah, nach Möglichkeit noch im Moment des Richterspruchs, die richtigen Ausgaben lautstark unters Volk zu bringen. Oder Roxie, die sich nichts mehr wünscht, als ein Star zu sein, also von den Medien gedoppelt und vervielfacht zu werden, im medialen Diskurs zu versinken, Bild und Ikone zu werden, und dafür im doppeldeutigen Sinne über Leichen geht. Die Sehnsucht nach dieser Künstlichkeit ist es, die nahezu alle Menschen in diesem Film anspornt, die die Antriebsfeder für jedes Handeln ist. Dazu passt, dass die Bildkompositionen auffällig oft auch Spiegel miteinbeziehen, die das Geschehen aus ungewöhnlichen Perspektive präsentieren, die den Zuschauer zunächst verwirren oder überraschen, die das Geschehen schon im Bild an sich codiert vermitteln.

Aber auch fernab dieses interessanten ästhetischen Experiments macht CHICAGO mit seiner Leichtigkeit und seinem Verve einfach Spaß – die Choreografien als Herzstück sind handwerklich geschickt inszeniert und wissen in Verbindung mit dem knalligen Soundtrack und den gewitzten Songtexten zu fesseln. Das Chicago der 30er Jahre wurde mit viel Liebe auf die Leinwand gezaubert, wie überhaupt das Set Design das Auge durchgehend verwöhnt. Die Darsteller agieren mit viel Elan und Verve, um aus ihren Rollen das Beste zu holen. Rundum intelligentes Unterhaltungskino der besten Sorte also, und ein gelungener Auftakt der 53. Berlinale, der den Blick auf das noch kommende der nächsten Tage mit Vorfreude zu füllen weiß.

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