Ab 18

Zensur neigt, als ideologisches Projekt, dazu, sich selbst überflüssig zu machen. Ihr Ziel ist nicht das eigene, gleichsam ewige Fortbestehen, sondern im ideellen Sinne an der eigenen Überkommenheit zu arbeiten. Nicht der sanktionierende Rotstrich, nicht der schwärzende Balken stehen im Focus, sondern das Buch, der Film, die Ästhetik, die aufgrund dieser besonderen Bedingungen erst gar nicht zustande kommen. Zensur ist also nicht allein Filtern, sondern vor allem auch Prävention. Deshalb gibt es auch keine institutionelle Zensur mehr – es wäre auch reichlich töricht, heutzutage zu schwärzen. Etabliert wurde vielmehr, ein paar Modernisierungen später, ein ineinandergreifendes »Patchwork« aus ökonomischen, juristischen und sozialen Sanktionen, welches einer zensurierenden Ideologie nur noch in Ausnahmefällen aktiv in die ästhetischen und kulturellen Diskurse einzugreifen abverlangt.

Umso wichtiger also eine kulturgeschichtliche Auseinandersetzung mit Zensur, ist die Peripherie des kulturellen wie politischen Geschehens, in der diese in der Regel greift, doch der eigentliche Schauplatz der Kämpfe um die Deutungsmacht der Diskurse, in denen verhandelt wird, was Gesellschaft sich leisten kann und was nicht. Eine solche Kulturgeschichte legt Dr. Roland Seim umfassend und reich illustriert im ersten Teil des vorliegenden Bandes ab. Ausgehend von der Antike bis zur Aufklärung, über das Dritte Reich hin zu unseren modernen Zeiten werden Ideologeme, Paradigmen, Verschiebungen derselben und ganz konkrete Fallbeispiele analysiert und herausgearbeitet. Der zugrunde liegende Zensurbegriff ist dabei denkbar weit gefasst und behandelt ganz genuin Zensurphänomene des Alltags, im Bereich der Literatur, im Film bis hin zu Comics, Werbeplakaten, Plattencovern, Briefmarken, Produktetiketten. Dankenswerterweise verzichtet Seim auf eine diese Thematiken behandelnden Texten oft immanente Sprache der bürgerlichen Empörung, schlimmer noch: des patzigen Gemaules, sondern nähert sich dem Sujet rational und analytisch, wenn auch hier und da das Amusement über manche unnachvollziehbare Sanktion kaum verborgen bleibt. Als Fazit, dahingehend unterscheidet sich Seim ebenfalls von vergleichbaren Publikationen, beschließt nicht etwa das empörte Zurückweisen jeglicher Zensur den Text, sondern ein gleichsam als Aufruf zur ständigen Reflektion zensurierender Maßnahmen und ihrer Gegenstände lesbarer Ausblick, der Zensur als immerwährende Auseinandersetzung mit sozialen Konventionen versteht und ihr dementsprechend Wandlungsfähigkeit zuschreibt.

Im Detail betrachtet der zweite Teil des Bandes Zensur als fassbares Phänomen. Hier widmen sich einzelne Projektteilnehmer des dem Buche zugrunde liegenden Studienprojektes „Zensur in der Bundesrepublik Deutschland“ ganz konkreten Beispielen, wie unter anderem der Entnazifizierung ausländischer Spielfilme durch deutsche Synchronstudios in der Nachkriegszeit, oder auch der Geschichte der Comics in der Bundesrepublik, die sich gleichsam als Geschichte der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften verstehen lässt. Die Qualität der Texte rangiert dabei von eher polemisch bis aufschlussreich. Im finalen dritten Teil fokussiert sich der Blick schließlich direkt auf die sozialen, ökonomischen oder juristischen Opfer herrschender Zensurideologie und lässt diese in eigenen Beiträgen, Interviews, oder auch nur durch die Dokumentation von Justizdokumenten oder Pressemitteilungen von ihren Verhängnissen im Clinch mit den Konventionen erzählen, lässt erkennen, dass nicht hinter jedem Autor vermeintlich verdammenswerter Machwerke ein Kindsvergifter steckt.

Ergänzt wird „Ab 18“ durch einen separat erhältlichen, kommentierten Bildband, in dem sich die ungeheure Materialsammlung des Studienprojektes dokumentiert findet. Es ergibt sich in supplementärer Lektüre beider Bände ein recht konkretes Bild gesellschaftlicher Gepflogenheiten und deren Wandel im Laufe der Zeit, sowie ein ungefähres jener Käseglocke, unter der sich selbst heute noch kulturelle wie ästhetische Diskurse entwickeln. Ungefähr deshalb, weil, durch nahezu unsichtbare Zensurmaßnahmen wohl unbemerkter denn je, Zensur, wie eingangs erwähnt, nicht allein eine filternde, sondern auch eine präventive Funktion beikommt. Bleibt allein die Frage, wann Sie eigentlich zum letzten Mal einen FSK18-Film, der ja für Ihr Alter freigegeben ist, bei Amazon bestellt haben!

Roland Seim
Ab 18 – zensiert, diskutiert, unterschlagen
Münster: Telos 2003
223 Seiten (Taschenbuch), 16,95 Euro
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Roland Seim
Der kommentierte Bildband zu „Ab 18“
verbesserte Neuauflage
Münster: Telos 2001
350 Seiten (Taschenbuch), 25,45 Euro
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